Geschlossene Gesellschaft oder Kalifornien an der Ostsee

Kalifornien liegt heute an der Ostsee. Ein Strand, der ein Gefühl von Kindheit hinterlässt mit seinem geradezu lächerlich bilderbuchhaften weißen Sand, Dünen und fuchsigen Möwen, die ums Essen herum staksen und Fischbrötchen klauen. Ein paar Meter weiter gibt es den Fisch an der Bude, und Pommes, Pizza, Eis, was man so isst am Strand. Eine kurze Autofahrt von Kiel entfernt, der Strand, der „Kalifornien“ heißt wie aus einem Theaterstück. Der daneben heißt „Brasilien“, Hauptsache Amerika. Anfang September, wenig los, leere Strandkörbe, ein paar Leute stapfen am Wasser rum, ein altes Pärchen dreht sich gegen den Wind und in die Sonne.

Ich bin bei einer Freundin, die hier studiert, und das ist auch immer eine Reise in eine andere, vergangene Welt: die Welt der WGs mit klebrigen Geschirrbergen und bunten Flohmarkt-Gütern, der selbst gestochenen Tattoos und Seitan-Dürüms und Debatten, wo Tage ungeplant verstreichen, Nächte sich ungeplant entwickeln und alle endlos viel Zeit zu haben scheinen. Und unter dem alternativen Habitus ein Stress und eine Unsicherheit, die niemand bemerken würde, dem sie nicht erzählt wird. Weil Druck, Leistung und Geld auch hier existieren, gerade auch hier.

Jura statt Lehre

Die junge Studentin, die ich in Kiel getroffen habe, hat mir erlaubt, diese Geschichte anonym aufzuschreiben. Reisegeschichten sind ja irgendwie auch innerdeutsche Geschichten. Dreads und Brille, ein bunt bespraytes Fahrrad, sie scheint geboren im alternativen Milieu. Aber ursprünglich hat sie Jura studiert. Und abgebrochen. Meine Freundin und ich ergehen uns relativ ungefragt in Auslassungen über all die Deppen, die Jura nur wegen des Geldes studieren. Unsere Begleiterin wendet ruhig, aber deutlich ein: „Ich kann das schon verstehen, die Motivation hatte ich auch.“

Dann erzählt sie ihre Geschichte, zieht mühelos die Diskussion an sich. Sie sei selbst aus nicht so wohlhabendem Haus; sie konnte zwar immer mit auf Klassenfahrt, aber es sei nicht leicht gewesen für die Eltern. Und sie wisse auch, dass 15 Euro Taschengeld im Monat viel Geld sind. Nach dem Abitur wollten die Eltern, dass sie eine Lehre mache, was Handfestes, direkt verdienen. Aber sie setzte sich durch und studierte Jura, Jura auch maßgeblich wegen des Geldes. Und war eine Außenseiterin in vielfachem Sinne.

Mit Dreads unter Bonzenkids

Ihre politische Einstellung hatte sie damals schon, den Look auch, sie saß mit Dreads im Seminar unter Bonzenkids. „Die Leute haben sich von mir weggesetzt.“ Sie war fassungslos von dem System, das sie vorfand. Eine Ellenbogengesellschaft voller Machtspielchen, so schildert sie es, in der es um vieles zu gehen schien, nur nicht darum, später für Gerechtigkeit zu sorgen. Profs mit homophoben und rassistischen Sprüchen, immer gleiche sexistische Fallbeispiele, in denen die dumme Blondine sich in Schwierigkeiten gebracht hat und vom smarten Anwalt gerettet werden muss. „Damals hatte ich noch nicht den Mut, die Professoren zu konfrontieren. Heute hätte ich das vielleicht.“ Sie selbst habe in solchen Fällen aus Protest die Seminare verlassen, mit zwei oder drei anderen Leuten. Die restlichen 600 störten sich nicht daran.

Unsere Begleiterin wirkt auf den ersten Blick schüchtern, aber in ihren Ansichten ist sie sehr klar. Und ich denke kurz, wie viel Mut es braucht, direkt nach dem Abi in einem sowieso fremden Milieu seine Meinungen so klarzumachen. Einen linken Dozenten habe es gegeben, sagt sie, der sie ermutigte, dran zu bleiben. „Wenn er geblieben wäre, hätte ich es vielleicht durchgehalten.“ Aber er ging. Gleichzeitig bemerkte sie, wie die anderen StudentInnen, auch die, die vorher anders waren, begannen, sich anzupassen. „Sie haben unter dem Druck krass an Empathie verloren.“ Und sei Empathie nicht eigentlich das, was Anwältinnen brauchten, um sich für andere einzusetzen?

Den letzten Ausschlag gab auch die Angst vor dem Staatsexamen. Durchfallen und wieder bei Null stehen, ohne Abschluss oder Einkommen, das konnte sie sich, im Gegensatz zu anderen, nicht erlauben. Sie brach ab. Dabei interessiere Jura sie nach wie vor. „Ich habe einen Riesen Respekt vor den Leuten, die das durchziehen, ohne sich zu verbiegen.“ Es seien sehr wenige. Heute geht unsere Begleiterin einer ganz anderen Arbeit nach, die ihr wenig Geld einbringt, aber unmittelbare Hilfe für Menschen bietet. „Es hat gedauert, bis ich verstanden habe, dass Geld mich eigentlich nicht weiterbringt.“ Nach wie vor hat sie den kleinen Traum, irgendwann mal irgendwas mit Jura zu machen, obwohl sie den wahrscheinlich begraben müsse. Und sie sagt, es sei ein Riesenproblem, dass nicht die Leute JuristInnen werden, die es eigentlich werden sollten.

Stadt: Kiel

Was der Lonely Planet nicht kennt: Wahrscheinlich das Event „rudirockt“, gibt es in mehreren deutschen Städten. Menschen kochen für Fremde, jeweils einen Gang, über die ganze Stadt verteilt. Menschen besuchen einander und essen zusammen in fremden Küchen. Soll sehr nice sein.

Wo du ans Meer kannst: Wir waren am Strand „Kalifornien“, entspannt und nicht überlaufen. Leider kostet der Zutritt, es gibt aber in der Nähe auch kostenlose Strände. Und die Pommes sind tatsächlich sehr gut.

Wo du essen kannst: „Mein Döner&Co“ in der Nähe des Hauptbahnhofs hat richtig gute selbstgemachte Soßen von Minze über Basilikum bis Curry, viel frisches Gemüse und ein gutes Veggie-Angebot.

Veröffentlicht von

Alina Schwermer

Freie Journalistin, schreibt viel für die taz, für die Deutsche Welle, aber auch für die Jungle World und wer sie sonst so fragt. Am liebsten über Sport und Reisen. Wollte nie einen Reiseblog machen und hat nicht lange durchgehalten.

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