Die Heuchelei der Religiösen

In einem kleinen, eigentlich gar nicht so verruchten Park liegt das Gebiet von Ali. Hier grüßt er jeden, telefoniert immer wieder hektisch. Neben ihm drehen zwei Frauen ihre Runde, eine mit Kopftuch, eine ohne. Der Park ist auch das Gebiet derer, die die Heuchelei verachten. Ali, der Dealer, der in Wirklichkeit anders heißt, und die beiden Prostituierten.

Ali ist der Mann, über den wir schon geschrieben haben, aber es braucht vielleicht noch einen eigenen Text, um seine Geschichte zu erzählen. Ob alles daran stimmt? Wer weiß das schon, bei einem Menschen, der einem etwas verkaufen will? Aber wer weiß das schon bei irgendeinem Menschen? Das ist Alis Geschichte, der wütend ist auf die marokkanische Gesellschaft, die er vor allem einer Sache bezichtigt: der Heuchelei.

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In langen Tiraden erzählt er uns seine Geschichte. Zunächst einmal ist Ali wütend auf seinen Nachbarn. Der Nachbarn ist ein reicher Mann und ein Religiöser, nicht umsonst kommt beides zusammen. „Er erzählt jedem, wie er zu leben habe. Er sagt mir, ich sei kein guter Muslim. Es stimmt, ich bete nicht, ich trinke, ich kiffe. Aber was tut er?“ Der Mann, dem viele Ländereien hier gehörten und ein großes Hotel, habe sich das Land einer Witwe unter den Nagel gerissen.

„Jetzt haben die Frau und ihre Kinder nichts. Dieser reiche Mann rennt herum und erzählt, was für ein guter Muslim er sei, er betet fünf Mal am Tag, er will über mich richten. Aber wie viel Leid verursache ich, und wie viel er?“ Mit dem Sohn des Mannes, auch so einem Religiösen, sei er mal in einem Edelclub in Tanger gewesen. Da habe der andere eine Prostituierte mit nach Hause genommen. Ali sagt, er hasse den Islam nicht. Er ist gläubig, zumindest meistens. „Aber ich hasse viele Marokkaner. Und, was die Religiösen heute aus uns machen.“

Hadern mit der Auslegung des Koran

Minutenlang kann er zitieren, was alles wie im Koran stehe: niemand schreibe einem dort vor, einen Bart zu tragen, niemand schreibe der Frau den Niqab vor, niemand schreibe Zwangsverheiratung vor. Und doch, sagt er, kommen diese alten Männer mit den Bärten jetzt überall nach Marokko, gehen zu den Jugendlichen aus armen Verhältnissen, geben ihren Familien Geld und rekrutieren sie. „Wenn du wirklich ins Paradies kommst durch eine Bombe, alter Mann mit Bart, und 40 Freunde mitnehmen kannst, warum sprengst du dich dann nicht selbst in die Luft?“ In einem Ted-Talk zu Radikalismus wäre er sehr gut platziert.

Wie so viele Religiöse hält Ali Religion für im Grunde gut und bloß von Konservativen missbraucht – und nicht für ein konservatives Instrument an sich. Aber die Legitimierung von Macht durch Religion seziert er sehr präzise. Auch am Beispiel des Königs Mohammed, der gern seine Religiosität zur Schau stellt. Für den Fall, dass irgendjemand Ali hier im Text doch wiedererkennen sollte, zitieren wir es nicht – Kritik am König ist in Marokko eine Straftat und wird schon mal mit mehreren Jahren Haft bestraft. Sie ist entschieden gefährlicher als Dealen. Ihn ärgern daneben auch die konservativen Eliten, die Profite raffen würden. „Wir haben große Rohstoff-Vorkommen, warum sehen wir davon nichts?“ Es ist wie beim Nachbarn.

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Wir verbringen ziemlich lange Zeit im Park mit Ali. Die endlosen, eindringlichen Monologe lassen uns an seiner Erzählung, er habe seinem Kokain-Habit abgeschworen, manchmal zweifeln. Aber Ali ist ein guter Erzähler, langweilig ist es nie. Bei ihnen zu Hause, sagt Ali, bei seinem gut vernetzten Vater, sei ständig internationales Volk ein und aus gegangen, so bekam er Sehnsucht nach der weiten Welt. Und zugleich war es ein sehr lokaler Haushalt, die Mutter stammt vom Dorf. „Wenn sie mich mit einem Mädchen auf der Straße gesehen hat, hat sie nachher gesagt: Wow, wie hübsch war die denn. Wenn sie meine Schwester mit einem Jungen auf der Straße gesehen hat, durfte meine Schwester das Haus nicht mehr verlassen.“ Ali empfand das als zutiefst ungerecht.

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In vielerlei Hinsicht hat er das, was oft „westliche Werte“ heißt. Als sei es ausgeschlossen, dass im Rest der Welt jemand in der Lage sei, liberal zu denken. Irgendwann begann er, Drogen zu verticken, erst Gras, dann so ziemlich alles. „Damals war ich richtig reich. Die Junkies sind laufende Geldautomaten.“ Wegen des Kokains, sagt er, landete er zwischenzeitlich im Knast. Und nahm sich vor, nur noch weiche Drogen zu verkaufen. Ein bisschen hat das auch mit einem Mädchen zu tun.

Sehr plastisch legt Ali uns dar, wie die Situation der Frauen in Marokko sei. Das Konzept, einen Freund zu haben, sei undenkbar; wer als Mädchen dagegen verstoße, bekomme Hausarrest oder werde geschlagen. Sex vor der Ehe sei für Männer völlig legitim, für Frauen gelte es als Schande. „Wie unlogisch ist das, bitte? Die Männer müssen es doch mit irgendwem treiben“, analysiert er gewohnt plastisch. „Wenn sie verheiratet werden, sind die Mädchen dann komplett unerfahren und hilflos. Es ist schwer, eine Frau in Marokko zu sein.“ Nach kurzer Pause fügt er bitter hinzu. „Okay, es ist auch schwer, ein Mann in Marokko zu sein. Aber nicht so.“

Fast überall in der Region fällt uns auf, wie die Cafés, aber auch die Straßen jenseits des Marktes, quasi ausschließlich von Männern bevölkert sind. Die Kinder, die neben unserem Auto herlaufen, sind dort nur Jungs. Die Mädchen fehlen. Sie sind schlicht nicht draußen. Ali sagt, lange Zeit lebte er das gute Leben der gesellschaftlichen Outcasts: viele Frauen, keine Verpflichtungen. Dann lernte er seine Freundin kennen.

Sie war „ein schlechtes Mädchen“, so nennt er das. Habe viele Drogen genommen, sich prostituiert, was man eben bei einem Mädchen so für schlecht hält. Und sei mit einem Trauma gekommen: als Kind sei sie von einem ihrer Brüder vergewaltigt worden. „Sie hat niemandem etwas gesagt, aber täglich musste sie dieses Monster sehen. Sie hasst ihre Familie. Aber sie ist geblieben, um die kleineren Schwestern mit durchzubringen.“ Ali, so berichtet er, nahm sie bei sich auf, ohne Gegenleistung. Es habe Jahre gedauert, bis sie ihm vertraute. „Manchmal wachte sie nachts auf und hatte Panik. Manchmal wollte sie einfach niemanden sehen. Ich habe zwei Jahre gebraucht, bis sie okay war.“ Dann wurde ihm klar, dass er nicht mehr im Knast landen wollte.

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Sie sind bis heute nicht verheiratet, auch das ungewöhnlich. Und kompliziert. „Ein Hotelzimmer bekommen Einheimische nur, wenn sie verheiratet sind. Wir müssen immer zwei Zimmer buchen und uns dann rüber schleichen, das kostet doppelt so viel.“ Auch in einem Haus mit ihr dürfe er nicht wohnen. „Jetzt habe ich einen Deal gemacht mit einem Hausbesitzer, den ich kenne.“ Wer frei leben will, muss zahlen können.

Er kann zahlen. Und doch, wie so viele fühlt sich Ali von zwei Seiten unter Druck. „Für die einen bin ich Ungläubiger, für die anderen Terrorist.“ Für die EuropäerInnen, meint er, für Leute wie uns, die herkämen und schlecht über MarokkanerInnen dächten. Mit dem Sermon verkauft er noch etwas anderes, nämlich Differenzierung.

Und ganz unverhohlen hat die ganze Geschichte des Dealers eine Moral: die Nuancen einer Gesellschaft zu sehen. „Gute und schlechte Menschen gibt es überall“, das klingt schon zu floskelig für alles, was vorher kam, „und die Guten kommen ins Paradies, die Schlechten in die Hölle.“ Er denkt kurz nochmal nach und findet einen besseren, Ali-typischen Einschub. „Naja, vielleicht gehen wir auch einfach nirgendwohin.“

Der Ort: im Norden Marokkos

Und sonst so: Das Rif-Gebirge ist eine tolle Gegend zum Wandern, sehr karg und beeindruckend. Die übliche Route geht drei Tage über Dörfer wie Asilah und Affaska zu den Wasserfällen von Akchour. Für Ungeübte ziemlich viele Höhenmeter, aber stattdessen in ein beliebiges Dorf zu wandern, tut es auch, es ist überall spannend. Wer hardcore ist, kann bis zum Mittelmeer trecken. Ein See tiefer im Gebirge soll weniger touristisch sein als die Wasserfälle und wurde uns als einheimischer Tipp genannt. Bei Interesse einfach vor Ort nachfragen.

Veröffentlicht von

Alina Schwermer

Freie Journalistin, schreibt viel für die taz, für die Deutsche Welle, aber auch für die Jungle World und wer sie sonst so fragt. Am liebsten über Sport und Reisen. Wollte nie einen Reiseblog machen und hat nicht lange durchgehalten.

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