Im Sperrgebiet

Dass wir von der Hauptstraße abgefahren sind, ist ein großes Glück. Und etwas, was die Menschen am Straßenrand als ein Versehen deuten. Sie winken uns hinterher, wir seien hier falsch, so energisch, dass wir überlegen, ob wirklich etwas falsch ist. Ist es nicht. Die kleine Straße, die von der Hauptstraße abführt, ist geteert, bloß schmal. Entgegenkommende Fahrzeuge weichen einander in den Sand aus, die Schlaglöcher begrenzen die Fahrt auf Schritttempo.

Und geben Zeit, sich umzuschauen in dieser Welt, die wieder ein Splitter von Marokko ist. Am Rand stehen Dörfer, deren Wohlstandsgefälle im Vergleich zu den Kleinstädten an der Hauptstraße groß ist. Die Wände der winzigen Bauten sind aus grauen oder roten Ziegeln gestapelt, auf vielen Dächern liegt Wellblech.

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Holzpfähle oder schwarze Plastikfolie begrenzen die Hütten, der Plastikmüll ist überall und viel mehr als später im Südosten. Autos kommen uns hier nur noch selten entgegen. Meist sind es Motorräder oder Eselskarren, von Männern oder von kleinen Jungs behände gelenkt, Reiter oder Tuk-Tuks, beladen mit allem und allen, die in dieselbe Richtung wollen. Und wir reagieren auf das Wellblech und die zwischen Müll spielenden Kinder so naiv, wie das wahrscheinlich viele Reisende tun: erschrocken, mitleidig, peinlich berührt. Zwei Reflexe springen an: Schlechtes Gewissen und die Sorge um den eigenen Besitz. Kann man hier nachts stehen?

Nirgendwo, lernen wir später, steht man entspannter als an kleinen Dörfern und Siedlungen, wo das soziale Gefüge intakt ist und Zugehörigkeit herrscht. Es sind die Großstädte, die unsicher sind. Als es in dieser Nacht tatsächlich am Wagen klopft, sind es keine Dorfbewohner. Es sind Soldaten. Es entspinnt sich eine seltsame Konversation. „Das hier ist Sperrgebiet“, teilt der eine Soldat sehr freundlich mit. „Sie müssen hier weg.“ So nett ist er, dass ich mich glatt traue, zu fragen, warum dieser harmlose Wald neben dem Dorf Sperrgebiet sei. „Weil von hier Flüchtlinge von der Küste nach Europa übersetzen“, antwortet er. „Wir patrouillieren das Gebiet.“

Schon mehrfach auf Reisen sind wir an eine der unsichtbaren Außengrenzen der EU gestoßen. Man sieht sie nicht, bis man darauf steht. Die Präsenz der Sicherheitskräfte überall rund um den Kontinent ist geisterhaft. Der Streifen hier liegt an der Westküste Marokkos, nicht der Nordküste. Die Menschen wollen über den Atlantik.

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Aus Erfahrung ahne ich, dass wir von den Soldaten nichts zu befürchten haben, wir sind ja gewissermaßen der Arbeitgeber. Wir quatschen sehr nett. Es herrscht ein völlig verstörender Kontrast zum kolportierten Auftreten gegenüber Geflüchteten. Als ich einwende, es würde schwer, in der Finsternis bei den Straßenverhältnissen woanders hin zu fahren, schlagen sie uns sofort einen nahen Platz am Anfang des Waldes vor. Dass auch er inmitten eines Nationalparks liegt, scheint kein relevantes Kriterium.

Es ist schön hier und ruhig. Und langsam, auf der Rückfahrt am nächsten Nachmittag, sehen wir die Dörfer mit differenzierenden Augen. Zuerst fällt mir auf, wie lebendig sie sind. Selbst im marokkanischen Vergleich spielt sich irre viel Leben auf der Straße ab. Und ich sehe die Würde des Alltags. Überall wird produziert. Ein Dorf hat sich auf Türen spezialisiert, sie werden eben an der Straße hergestellt, mit aufwendigen Designs.

Fast überall ist irgendein Markt, mit dem üblichen Gedränge der KundInnen und Lieferwagen. Selbst, wer in einer Hütte lebt, ist sorgfältig und à la mode gekleidet und gestylt, jedenfalls die unter 30. Bei jungen Männern heißt das neben den üblichen Jeans und engen Shirts: europäische Fußballtrikots.

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Nicht die Premier League regiert hier, gefühlte 90 Prozent der Marktmacht gehen an den FC Barcelona. Und davon hundert Prozent an Messi. Und überhaupt, Fußball. Jedes Dorf hat zwei Torstangen, dauernd wird gespielt. Die flächendeckende Begeisterung jedenfalls gäbe mehr Profis her. Wer nicht spielt, plaudert oder von der Schule kommt, arbeitet auf dem Feld, meist per Hand und in Gemeinschaftsarbeit. Die Dörfer haben Nachteile, die wir mit verursachen, und Vorzüge, die wir schlecht verstehen. Es tut ihnen Unrecht, wer sie nicht ernst nimmt.

Erst jetzt habe ich die Zeit, die Atmosphäre wirklich wahrzunehmen. Vor allem die Begeisterung gegenüber unserem LKW. Überall werden wir von Winken, Schreien, Grinsen empfangen. Was anderswo nur die kleinen Jungs taten, tun hier ganz ungeniert alle: Männer und Frauen, Opas und Omas bekunden ihre Begeisterung. Eine Gruppe Mädchen, an anderen Orten völlig unsichtbar, kriegt einen ekstatischen Kreischanfall angesichts des Wagens. Wir können keinen Meter fahren, ohne einen Daumen hoch zu bekommen. Wir nehmen kleine Schuljungs auf dem Heimweg mit. Langsam wird dieses Marokko sehr gewöhnlich.

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Und das andere ungewöhnlich. Weil wir Wäsche waschen wollen, stehen wir uns an diesem Abend bei Kénitra auf einem Campingplatz. Kénitra ist eine Großstadt mit Malls, flanierender Jugend und schicken Gebäuden hinter Sicherheitstoren, Welten entfernt. Wer vom Dorf kommt, muss einen Kulturschock erleben. Der Strand und die touristische Zone sind pandemiebedingt verwaist, das Areal gehört jetzt den Einheimischen: den alten Männern, die angeln, den jungen Männern, die surfen oder es zumindest versuchen, und den Kindern an der nahegelegenen Fußballschule. Wahrhaftig sind hier in der Großstadt auch Mädchen dabei.

Wir, die wir das Chaos der Dorfstraßen gewohnt sind, empfinden die Straßen seltsam verwaist. Auf einer wohl mal für TouristInnen errichteten Kirmes drehen sich zu ballernden Sounds fast leere Fahrgeschäfte. Auch so ein Sperrgebiet.

Die Orte: Ländliche Gegend um Moulay Bousselham; die Stadt Kénitra

Was man da machen kann: Bei Moulay Bousselham gibt es einen Nationalpark, im Wesentlichen ein See mit Vogelpopulation, darunter Flamingos. Es lohnt sich, sich stattdessen ein paar Stunden mehr Zeit für die Fahrt über Land zu nehmen und von Südosten an den See zu fahren, über die Dörfer kommend. Es gibt viel zu erleben.

In Kénitra: Der Campingplatz am Strand von Kénitra hat eine Waschmaschine und warme Duschen. Gen Süden geht es in eine touristische Zone. Im Norden, bei Anglern, Surfern, Muschelfischern, gibt es mehr zu sehen.

Wo man essen kann: Das Strand-Restaurant Himria hat super guten und frischen Fisch und Meeresfrüchte, ein großes Mittagessen gibt es für circa vier Euro, es ist immer voll mit Einheimischen. Für VegetarierInnen eine schlechte Idee. Unter den touristischen Läden ist das Grill-Restaurant fünf Minuten vom Campingplatz in Ordnung: europäische Preise, riesige Portionen.

Veröffentlicht von

Alina Schwermer

Freie Journalistin, schreibt viel für die taz, für die Deutsche Welle, aber auch für die Jungle World und wer sie sonst so fragt. Am liebsten über Sport und Reisen. Wollte nie einen Reiseblog machen und hat nicht lange durchgehalten.

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