Wüstenschiff

Die Wüste ist eine Landschaft, von der man gar nicht so genau sagen kann, wann sie anfängt. Ist es der Punkt, an dem die Äcker immer karger werden und sich in eine braune, steinige Fläche verwandeln? Oder der Punkt, ab dem es kaum mehr Landwirtschaft gibt, nur noch einzelne Büsche und Dornengestrüpp wachsen? Der Punkt, wo auch das nicht mehr wächst und es aussieht wie auf dem Mars? Oder braucht es Sand? Wir fahren im Südosten Marokkos in Richtung Zagora und kleben an den Fenstern. In den Filmen, wo es immer nur Sandwüste gibt, ist sie monoton und leer. In Wahrheit ist trockene Landschaft so vielfältig, wie man sich nur vorstellen kann.

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Manchmal ist sie braun und spröde. Manchmal ist sie eine endlose Geröllwüste. Dann wieder nimmt sie eine gelbliche Farbe an, und oft genug ist der Boden ganz im Gegenteil rot, durchzogen von tiefen Canyons und roten Felsen. Wir fahren kilometerlang durch Gebiete, in denen überhaupt nichts ist, und stoßen dann plötzlich an surreal grüne Plantagen; oder an Oasen, wo Palmen, Gras und Buschwerk einen fruchtbaren Streifen bilden, so weit das Wadi reicht. Oft ist die Landschaft gar nicht leer; es gibt Büsche, und manchmal an Berghängen unerwartet sogar Wälder. Dort, wo es Wasser gibt, erheben sich Orte, teils auch Großstädte, surreal aus dem Nichts.

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Und diese trockene Landschaft muss das Autostopp-Zentrum der Welt sein. Alle, die einen Esel haben oder zu Fuß gehen, und die Esel werden seltener hier, sind bei weiten Strecken auf Mitfahrgelegenheiten angewiesen. Überall also stehen Männer an der Straße – die Frauen, die nur Markt und Haus erleben dürfen, bleiben wie immer unsichtbar. Ständig haben wir auf dieser Tagesfahrt männliche Mitreisende.

Der erste Langstreckengast ist Ali. Ali, der in einem lebendigen Bergdorf ein Café hat. Genau genommen gehört das Café seinem Vater, die Familie besitzt es seit 25 Jahren. Es trägt einen Berber-Namen, Ali ist Berber und stolz darauf, wie viele hier. Aber er hat Französisch von Reisenden aufgeschnappt und redet es auf der Fahrt fast ununterbrochen. Er erzählt uns von dieser Straße, die, wie oft in Marokko, gerade neu gemacht wurde, „fünf Jahre haben sie daran gebaut.“ An steilen Kurven ragen noch die Serpentinen der alten Strecke hinter Felsblöcken hervor. Für Ali ist es wichtig, dass die Straße gut ist.

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Normalerweise ist die Route über das Gebirge und Ouarzazate, dieser Hauptweg in die Wüste, von TouristInnen befahren. „Aber letztes Jahr hatten wir wegen Corona gar keine Gäste. Dieses Jahr ist es ein bisschen besser.“ An der Straße stehen die Übriggebliebenen des großen Verkaufs: sie bieten Bergkristalle an, mit rotem Innerem. Oder zumindest Steine, die das sein sollen.

„Ich will ehrlich mit euch sein“, sagt Ali lachend, als wir danach fragen. „Die Steine sind nicht echt. Sie werden angemalt.“ Es gebe solche Kristalle zwar hier in den Bergen, aber sie seien sehr selten. Diese kleine Kreativität bereitet ihm viel Vergnügen. In Marokko herrscht beim Verkauf der große Sozialdarwinismus: Wer Schrott kauft, ist selbst schuld. Unterwegs sehen wir immer mal TouristInnen, die an die Stände gekarrt werden.

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Als wir im Dorf angekommen sind, lädt Ali uns ins Café auf Minztee und Frühstück ein. Das Bergdorf ist von einer ansteckenden Lebendigkeit: überall Fleischer und Händler, es qualmen schon vormittags die Grille der kleinen Buden, auf den Dächern laufen Wollziegen. Ali ist sehr zufrieden mit dem Leben hier. Wenn ihn etwas beunruhigt, dann der Klimawandel. „Es ist viel zu heiß aktuell“, es mögen 30 Grad sein. „Normalerweise fällt ab November Schnee. Und es ist viel zu lange trocken.“

Kaum eines der Wadis führt Wasser. Letztes Jahr, erzählt er, sei der Schnee auch viel zu spät gewesen, dafür habe es im März noch geschneit. „Aber Hauptsache kein Corona.“ Die Impfkampagne in Marokko verlief sehr erfolgreich, ein Großteil der Bevölkerung ist geimpft. Masken oder Ähnliches interessieren hier niemanden, es gibt wichtigere Sorgen. Und eine entspannte Grundhaltung.

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Ich frage, was Ali in seiner Freizeit hier so macht. Aber die Frage verfängt nicht richtig, er ist eben den ganzen Tag im Café. „Oder ich kümmere mich um Sachen zu Hause.“ Das Konzept eines Hobbys ist ihm fremd. Er lädt uns ein, auf dem Rückweg wiederzukommen und meint es so. Das Café ist wie sein Wohnzimmer, ständig gehen Anwohner ein und aus – nur Männer, wie überall. Wir wollen wiederkommen.

Das Dorf, wo man uns erwartet, werden wir nicht wie geplant erreichen, so viel ist bald klar. Es ist Marokko, und wenn man Menschen mitnimmt, passiert immer irgendwas. In Ouarzazate, einer recht touristischen Großstadt, wollen wir den nächsten Langstreckengast auflesen. Ein älterer Mann namens Omar, der sich als Parkplatzwächter verdingt, hatte uns auf der Straße angesprochen. Er möchte, dass wir seinen Bruder mitnehmen.

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Der Bruder ist natürlich nicht hier. Wir folgen Omar, der auf seinem Rad durch die Stadt vorfährt, über eine Freifläche in einen bescheideneren Vorort, zum Haus des Bruders. Bloß weiß der Bruder offenbar nichts von seinem Glück. Wir treten in das kleine, mit Teppichen ausgelegte Wohnzimmer. Es ist sonst kahl wie viele der ärmeren Bauten, rein funktional. Omar ist herzlich und überschwänglich. „Es ist gut, dass ihr hier seid. In den großen Städten, in Marrakesch und so, ist es wie in Frankreich: laut und unpersönlich, viele Autos und LKW. Hier ist es anders, hier werdet ihr überall eingeladen, das ist normal.“

Um den Bruder geht es jetzt nicht mehr. Omar serviert Minztee, Datteln und Mandeln. Nachdem wir gegessen haben, machen wir gemeinsam ein Foto. Sorgfältig notiert der Mann seine Adresse: er hat kein Smartphone und möchte, dass wir ihm das Erinnerungsbild per Post schicken. Auf nochmalige Nachfrage, was denn nun mit diesem Bruder ist, erwidert er beiläufig: „Mein Bruder ist müde und möchte schlafen. Er fährt doch nicht.“ Eine Mitfahrt war nicht so richtig der Punkt. Omar verabschiedet sich, gibt seine Nummer und lädt uns ein, bei der Rückfahrt auf einen Couscous oder eine Tajine bei ihm zu Besuch zu kommen. Und wir fahren weiter und wollen wiederkommen.

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Die Sonne senkt sich, und uns wird allmählich klar, dass wir nicht mehr jeden Menschen und jeden Minztee mitnehmen können, wenn wir unsere Verabredung am Zielort einhalten wollen. Einen Moment später ist der Vorsatz hinfällig, ein Mann winkt hektisch am Straßenrand. Es ist Youssef, dessen Auto einen Motorschaden hat. „Mein Fahrer wird beim Wagen bleiben, um auf den Mechaniker zu warten.“ Er muss zurück in sein Heimatdorf. Er ist zurückhaltender als die beiden anderen. Er stellt uns ein paar höfliche Fragen, wie uns das Land gefalle und so, und berichtet, er habe auf dem Dorf einen eigenen Hof. Und als wir im Dorf sind, lädt er uns auf einen Minztee ein.

Wir lehnen ab, in einem Anflug, diese Fahrt zumindest vage effizienter zu machen. Aber in einem Land, wo nur eine Minderheit einen offiziellen Job hat und dieser Job auch keine Eile verlangt, ist Effizienz weder nötig noch sinnvoll. Vor Sonnenuntergang schaffen wir es noch über die nächste Bergkette, dann ist es dunkel. Wir sagen denen, die auf uns warten, Bescheid, dass wir einen Tag später kommen werden. Niemand ist überrascht. „Ich warte auf euch, heute oder morgen.“ Die Ankunftszeit ist wirklich nicht der Punkt.

Der Ort: Die Route von Touama bis Agds

Was man da machen kann:
Fahren und die Landschaft erleben. Der Weg ist wirklich spektakulär, von Gebirge über Wüste bis zu fruchtbaren Tälern. Und immer wieder Leute mitnehmen.

Wo man gut essen kann: Vor allem in den kleineren Orten unterwegs. Überall entlang der Straße gibt es Restaurants und Cafés. Alis Café ist im Bergdorf Taddert und heißt Afoulki.

Wüste, wie wir sie aus Filmen kennen, gibt es auch, aber nicht so oft:

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Veröffentlicht von

Alina Schwermer

Freie Journalistin, schreibt viel für die taz, für die Deutsche Welle, aber auch für die Jungle World und wer sie sonst so fragt. Am liebsten über Sport und Reisen. Wollte nie einen Reiseblog machen und hat nicht lange durchgehalten.

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