„Wir sind da“, sagt Youssef. „Der Iriqi-See.“ Ich folge seiner Geste. Wir stehen mitten in der Wüste. Ich sehe überhaupt keinen See. Ein paar verlassene Restaurants, alte Schilder, sonst Stille, auf eine angenehme und gleichzeitig sehr respekteinflößende Art. Rechts erstreckt sich das Gebirge mit seinen ausgespülten Schluchten, das die Wüste begrenzt. Ansonsten nichts bis zum Horizont. Geröll, ein bisschen Gestrüpp. Und irgendwo dort, wo wir herkommen, Sandwüste. Die Luft flimmert, es ist schwer auszumachen, welcher der Berge real ist.
„Wo ist das Wasser?“, frage ich Youssef. „Ach, der Iriqi-See führt seit Jahrzehnten kein Wasser mehr“, gibt er wie selbstverständlich zurück. Nicht mehr, seit es den desaströsen Staudamm von Ouarzazate gibt, über den ich an anderer Stelle schon geschrieben habe. Der Iriqi-See, offiziell Nationalpark im Südosten Marokkos und angeblich von Tausenden Vögeln besiedelt, wurde einst von dem Wasser gespeist, das von den Berghängen herunterfloss. Ein kleines Wunder in der Wüste. Nun kann man nur noch erahnen, wo er einst war: vertrocknete Stängel ragen aus dem brüchigen Boden hervor. Wir stehen mitten auf dem See.
Als wir Youssef baten, uns die fünf Stunden zum Iriqi-See zu führen, hat er mit keinem Wort erwähnt, dass es den See nicht mehr gibt. Wann gab es das letzte Mal etwas Wasser hier? „Vor drei Jahren“, sagt er. Youssef, der eigentlich anders heißt, ist der Cousin eines Freundes, stammt wie so viele von einer Nomadenfamilie ab und macht alles mit Wüste. Wenn man irgendwo hin möchte, bringt er einen hin; er macht einen guten Preis, ist liebevoll und sehr umsorgend. Aber er hält sich nicht allzu lange mit Details auf. „Wie viele Tage möchtet ihr nun bleiben?“, fragt er. In zwei Tagen wird er uns wieder abholen.
So bleiben wir zwei Tage an einem See, den es nicht gibt. Wirklich allein zu sein in der Wüste, fünf Stunden Fahrt fernab jeder Straße, ist zum Fürchten und faszinierend zugleich. Man fährt, um hierher zu kommen, einfach quer durch; über Sanddünen, in denen wir stecken bleiben, durch ausgetrocknete Flusstäler und immer weiter durch endlose Geröllwüste. Youssef biegt von einer alten Reifenspur in die andere wie auf einem unsichtbaren Autobahnnetz. Und durch die Gebirgskette zur Rechten ist die grundlegende Orientierung tatsächlich leicht. Unterwegs sind wir niemandem begegnet. Da ist einfach nichts.
Irgendwann einmal zogen viele Nomadenfamilien durch das Gebiet. Nun können sie nicht mehr überleben, nur einmal auf dem Weg stoßen wir noch an eine Siedlung. Es ist eine Oase mit einer kleinen natürlichen Quelle. „Früher standen hier überall Zelte ringsherum, viele Herden haben hier geweidet“, sagt Youssef. „Und schau, wie es jetzt aussieht. Wir sagen: ohne Wasser kein Leben.“ Die Klimakatastrophe macht das Gebiet unbewohnbar. Aber die marokkanische Regierung tut so, als sei einfach nichts gewesen. Weiter ist der Iriqi-See auf den Landkarten eingezeichnet, und auch die Hotels und Campingplätze werben damit; weiter sprechen Webseiten von Flamingos oder Straußen. Und lokale Leute machen Führungen zu einem See ohne See.
Iriqi ist ein trauriger und ein umwerfend schöner Ort. Tagsüber schauen wir stundenlang aus dem Autofenster, vage auf der Suche nach Tieren und fasziniert von der Endlosigkeit. Oder laufen den alten See entlang, wo ein kleiner Rest Feuchtigkeit Grashalme durch den brüchigen Boden sprießen lässt. Die Inhaber einer einsamen Farm, die sich am Felshang befindet, kommen vorbei und laden uns ein. Als wir dann am nächsten Morgen auf der riesigen Anlage eintreffen, laufen wir an surreal grünen Beeten entlang. Mitten in der Wüste pflanzen sie Kartoffeln, Möhren, Tomaten. Und, wie Youssef uns später schlecht gelaunt erzählt, Wassermelonen. „Viele Leute machen das hier. Das ist schlecht, sie verbrauchen die letzten Wasserreserven. Aber das interessiert die Leute nicht. Melonen bringen ihnen mehr Geld.“ Der Kreislauf der Zerstörung.
Es ist am ersten Tag, als wir der Oryx-Antilope indirekt begegnen. Die seltenen Oryx-Antilopen, sagte man uns, sind hier wieder angesiedelt worden. Es klingt nach einem guten Projekt. Ein „Wildlife-Guard“, so nennt ihn Youssef, gebe auf sie Acht. In einer Schlucht stoßen wir auf ein Wasserloch vom letzten Regen. Und Hunderte frischer Tierspuren führen dorthin: die der Oryx-Antilopen, des Wüstenfuchses Fennek, von Kamelen und, tatsächlich vielleicht, die Pranke einer Hyäne. An diesem Wasserloch ist die Tierwelt übermächtig, wir sind nur schwächliche, ungebetene Gäste. Was uns auf die Idee bringt, den Wildlife-Guard zu befragen.
Der Guard lebt auf einem Hügel vor dem Gebirge, der das Flachland überblickt. Es ist nur ein kleiner Verschlag, und der magere Wachmann wirkt arm. Ich spreche kaum Arabisch und er spricht kein Französisch, die Konversation kommt nicht weit. Dann taucht Youssef auf, um uns abzuholen. Wer bezahlt denn eigentlich den Wachmann?, frage ich. „Die Emiraten“, erwidert Youssef. Ich denke, ich habe ihn falsch verstanden. Die Emiraten? „Kennst du die nicht? Katar, Abu Dhabi, Dubai und so weiter.“ Doch, die kenne ich schon. Warum, frage ich, bezahlen die Emiraten jemanden, damit er in Marokko Oryx-Antilopen bewacht? „Damit sie sie schießen können, natürlich.“
Und dann erfahren wir die ganze seltsame Geschichte von Iriqi. Sie geht etwa so: Irgendwann kamen die Kataris und alle anderen auf die Idee, dass ihre reichen Geschäftsleute gern Antilopen schießen würden. Und was würde sich besser eignen als die faszinierende Landschaft von Iriqi? So wurde die Oryx wieder angesiedelt, Gazellen gibt es hier auch. Und ein Wächter installiert, der die Tiere schützt – vor konkurrierenden Wildtierjägern. „Einmal im Jahr kommen die Kataris hierher und schießen die Tiere wieder.“ Die ausländischen Gönner, so Youssef, würden dem Wachmann sogar gelegentlich einen Lieferwagen mit Essen hier hoch schicken. Er spricht, als habe der Mann einen guten Deal gemacht.
Ich denke über die verschiedenen Investoren hier in der Gegend nach. Für Youssef ist alles gleich: ob katarische Touristen nun bezahlen, um hier Tiere zu schießen, oder ob europäische Tourist:innen bezahlen, um einen See zu sehen, der nur noch auf ihren Landkarten existiert. Wenn beides gleichzeitig geht, umso besser. Sonstige Nationalparks funktionieren auf dem afrikanischen Kontinent ja oft kaum anders als das Investment der Emiraten. Wachen werden von Europäer:innen bezahlt, um einen Abenteuerpark zu erhalten. Nur der etwas anderen Art. Für Menschen vor Ort ist beides unerreichbar. Wir fahren zurück durch die Wüste. Irgendwann hält Youssef auf einem Sandhügel an und deutet in die Ferne. Da sind sie, ein Rudel Gazellen.
Der Ort: Der Iriqi-See im Südosten Marokkos
Wie man dort hinkommt: Eigenständig nur mit Allrad oder mit dem Motorrad. Ansonsten mit einer geführten Tour. So oder so empfiehlt es sich zumindest beim ersten Mal, sich den Weg durch die Wüste zeigen zu lassen. Es ist eine Tagesfahrt durch unbewohntes Terrain ohne Straßen oder Schilder.
Was das kostet: Wie so oft lohnt es sich, über Kontakte zu gehen. Jeder Anwohner kann einen Cousin auftreiben, der zum Iriqi-See führt. Rund 160 Euro für Hinbringen und Abholen sind ein guter Preis. Es lohnt sich, den Fahrer zu bitten, unterwegs nach Tieren Ausschau zu halten.
Und sonst: Es gibt Skorpione und Schlangen, daher auf warmen Steinen aufpassen. Auf dem Weg nach Iriqi liegt das Sanddünengebiet von Erg Chegaga, ein beliebtes Ziel bei Tourist:innen. Aber letztlich ein Haufen Sand.