Auf der Dachterrasse am Rande des Atlas sind die Aussichten nur wörtlich gut. Das Haus, in dem wir zu Besuch sind, steht im Herzen eines jahrhundertealten Dorfes auf einer Anhöhe inmitten majestätischer Berge. Amine, der Enkel, hat uns hierher eingeladen, ins Haus seiner Großmutter. Der Innenhof und einige Zimmer sind frisch renoviert in leuchtenden Farben, die Räume ausgestattet mit Teppichen, Kissen, Koransuren an der Wand. Von der Dachterrasse blickt man in ein stilles, idyllisches Tal, die Wintersonne scheint.
Das Leben ist hart hier oben, wo es keine Heizungen gibt. Und selbstorganisiert. Wenn es Wasser gibt, fließt unten ein Fluss, und am Rande des Flussbettes pflanzen die Bewohner:innen gemeinschaftlich Gemüse und Kräuter an. Wir bekommen selbst hergestellte Milchgetränke, eine Tajine mit Fleisch und Gemüse, eine riesiges Frühstück. Gegessen wird wie überall im Land gemeinsam mit der Hand aus der großen Schüssel, die Gastfreundschaft ist für Könige. Man lebt von ein bisschen Selbstversorgung, ein bisschen Handel und von den Tieren – auch Amines Großmutter und Onkel und Tante halten hier Schafe und Ziegen. Amine ist gern hier und doch nicht.
Ihm, der eigentlich anders heißt, geht es wie sehr vielen jungen Marokkanern: Student, gebildet, aber keine berufliche Perspektive. Und er will nur raus aus dem Land. „Nach Amerika.“ Oder eigentlich egal. „Hätte ich einen Job im Ausland, wäre ich morgen hier weg“, sagt er auf der Dachterrasse. Aber er hat keinen. Und der Weg hinaus ist von Stacheldraht verschlossen.
Wir sind dank Amine zu Gästen einer Dorfgesellschaft am Rande des Atlas geworden. Wir wollten eigentlich nur weiter unten im Hauptort was einkaufen. Der Hauptort ist ein Allerweltskaff mit ein paar Buden und Gemüsehändlern, einigen Neubauten. Viele Leute, werden wir lernen, sind aus den umliegenden Bergdörfern zugezogen. In der Nähe gibt es eine Fabrik, die Arbeitsplätze schafft.
Und viele Familien, inklusive die Eltern von Amine, sind vom entlegenen Dorf hierher gezogen. Es sind Orte, in die keine Fremden kommen. Vor acht, neun Jahren, wird sich Amine erinnern, seien mal Touristen da gewesen. Als er uns sieht, – „Hey, friends!“, ruft er begeistert – lädt er uns zum Tee ein. Und am nächsten Tag zu seinen Eltern. Und dann auf das Dorf seiner Großmutter. Wir spielen stundenlang Karten, Würfel, Tischkicker und Billard im Café. Und ehe wir uns versehen, sind wir trotz höflicher Proteste eine Woche Gast von jedermann.
Wenn Westeuropäer:innen von ausländischer Gastfreundschaft hören, liegt oft etwas wie Verniedlichung in ihren Stimmen: „Ach ja, die sind ja so herzlich.“ Wie anders diese Welt funktioniert, können sie sich selten vorstellen. Und vielleicht haben sie auch Angst davor, dass Gesellschaften so anders und wärmer funktionieren als die ihre. Solche, wo man aufeinander angewiesen ist und absichtslos schenkt.
Wie der Angestellte einer Bude am Rande von Marrakesch, der uns Milchshakes schenkte, einfach so. Wie der Sekretär eines lokalen Fußballklubs, der circa um Mitternacht an unsere Wagentür klopfte, um uns zum Abendessen einzuladen. Wie der Mann in der Wüste, der uns gebratenen Fisch im Brot ans Auto brachte und wieder verschwand. Wie Amine, der jeden Tag vor der Tür steht, mit Suppe, mit Milch, mit Kaugummis oder Kuchen. Absichtslos, einfach aus Güte. Wir Deutsche sind Betonklötze in dieser Welt. Wir sind aufgezogen nach einer Ordnung, die verkauft, statt zu geben, wo Gespräche sich um Beschwerden drehen. Wie heftig der kulturelle Unterschied ist, weiß nur, wer ihn erlebt hat. Wir lernen in dieser Welt mühsam: Wie auch wir die Leute zum Tee einladen, bekochen, beschenken. Wir fühlen uns ungelenk dabei.
Gleichzeitig ist die soziale Nähe des Dorfes, wie jede soziale Enge, auch erdrückend. Privatsphäre gibt es nicht. Alle paar Minuten klopft von morgens bis abends jemand an die Wagentür, neugierige Kinder, Teenager, Leute, die reden wollen oder was schenken oder einladen. Diese Einladungen laufen nach dem Gesetz des exponentiellen Wachstums: aus jedem Besuch entspringen gefühlt fünf weitere. Ein „Nein, danke“ oder die Ankündigung, zu gehen, erntet Unverständnis, wo Leute jede Minute zusammen verbringen. Rückzugsorte sind nicht vorgesehen.
Und manchmal denken wir an die Worte eines iranischstämmigen Bekannten, der sagt: die Gastfreundschaft, ja, die sei groß. Aber Gespräche oft auch oberflächlich. Wer in großer Nähe zueinander lebt, kann es sich vielleicht nicht leisten, über Politik zu streiten. Und wirklich auf eine vertraute Ebene mit jemandem zu kommen, dauert.
Diese Welt, in der wir eine Woche verbringen, ist eine der großen Güte, der Freude am Kleinen. Und eine der tiefen Trauer und Aussichtslosigkeit, die man erst auf den zweiten Blick sieht. Das Dorf von Amines Großmutter ist ein sterbender Ort. Kinder gibt es hier nicht mehr. Autos passen nicht durch die engen Gassen. Die jungen Leute sind alle in das Provinzkaff an der geteerten Landstraße gezogen.
Dorthin, wo Amines Vater das erste Café im Ort eröffnet hat, das zugleich Tante-Emma-Laden, Fast-Food-Shop und alkoholfreies Pendant zur Kneipe ist. Der brummende Treffpunkt der Männer. Amines Vater hat das Agrarleben hinter sich gelassen und hier ein blühendes Geschäft gemacht. Aber die jüngere Generation will weiter weg. Nicht nur Amine.
Den Teenager, nennen wir ihn Samir, lernen wir nach ein paar Tagen kennen. Er ist einer der vielen, die an die Wagentür klopfen und eine Handynummer wollen. Wie so viele hier ist er Amazigh, nicht Araber, und zweisprachig aufgewachsen. Seine zwei Sprachen sind nicht unsere und unsere nicht seine, also kommunizieren wir meist über Google Translator. Auch Samir will nur raus aus dem Land, das ihm wie ein Gefängnis vorkommt. „In Marokko gibt es keine Zukunft.“
Er träumt von Europa, auf dem einen, erreichbaren Weg: „Bootsmigration.“ Wir warnen ihn vor den Gefahren. „Ja, ja“, sagt er dann, überzeugt klingt es nicht. Immer wieder bittet Samir darum, dass wir ihn im Wagen über die Grenze schmuggeln. Er schickt uns Fotos von Jungs, die Versteckboxen unter LKW bauen. „Bitte, ich brauche euch.“ Wir hören es hilflos. Sprechen über die winzige, legale Option. Er will jetzt Englisch lernen, stimmt er irgendwann zu, und nicht mehr ins Boot steigen. Aber er ist auf sich allein gestellt, in seiner Schule gibt es keinen Englischunterricht.
Welche Europäer:innen treffen je persönlich einen der vielen smarten, großherzigen, empathischen Jungs, die auf diesem Weg ertrinken, in Lagern landen, traumatisiert werden oder drüben in Illegalität leben? Oder gefangen bleiben in einem Nationalstaat. Wer würde eine Weltordnung erlauben, in der sie dort ein gutes Leben führen können, wo sie verwurzelt sind? Denn drüben, denken wir, wären diese Dorfjungs völlig ohne Halt.
Die Weißen haben es sich im Gegenzug in Marokko sehr gemütlich gemacht. Eine Woche nach unserem Aufenthalt in den Bergdörfern werden wir von einem strengen Polizisten auf einen großen Campingplatz in der Nähe von Agadir beordert. Unzählige weiße Rentner:innen genießen dort ihren Lebensabend in gekauften Ferienhäusern. Es ist eine bizarre Bubble: fünf bewässerte Golfplätze gibt es in der Nähe, im Land, wo Zehntausende aus ihren Dörfern flüchten, weil es dort kein Wasser mehr gibt. Europäische Küche und marokkanisches Personal. Ein freundliches finnisches Rentnerpaar lädt uns ein. Seit zwölf Jahren leben sie teils hier. Und wie nett und hilfsbereit die Marokkaner alle seien, der Soundso, der die Haare schneidet. Bloß, dass man eine Luxussteuer zahlen muss, wenn man eine finnische Sauna hierher importiert, darüber schimpfen sie zwanzig Minuten.
Absurde Widersprüche
Dann kommt das Gespräch zufällig auf Migrant:innen in Finnland. „Wir beten jeden Tag, dass es -30 Grad werden und sie abhauen“, sagt der Mann. Warum, frage ich. „Die Schwarzen, die Afrikaner und so, die arbeiten nicht, sie leben von unserem Sozialstaat. Wir mögen sie nicht.“ Es folgt die übliche Leier. Die Widersprüche in dieser Situation sind so absurd, dass ich mich frage, ob sie sie nicht merken. Zwei nicht arbeitende Ausländer, die seit einem Jahrzehnt in Marokko leben, ohne die Sprache zu sprechen, etwas beizutragen oder mit jemandem Kontakt zu haben außer ihrem Friseur, prangern genau das bei anderen an.
Und die, die hier angeblich so nett und fleißig sind, sind dort faul. Ich sage etwas. Und ich erzähle von Samir, von der Verzweiflung, von den Booten. „Stimmt“, sagt das Paar dann. „Ja, ja.“ Und das mit den Golfplätzen, ja, das sei auch schlimm. Sie sind sehr nett. Und fast so großzügig wie die Marrokaner:innen. Zu uns jedenfalls. Und sie spielen sehr gern Golf.
Geldbündel und Lamborghinis
Reich wäre auch Samir gerne. Die Fotos und Videos auf seinem Smartphone zeigen Typen, die Geldbündel über ihren Kopf schmeißen. Oder Lamborghinis. Er mag schnelle Autos. Ansonsten mag Samir auch „Romance“, viele Fotos zeigen schöne Paare, die Frauen ohne Kopftuch. Einmal sind wir auf einem Bergdorf bei seinen Verwandten zu Gast; ein gutes, lebendiges Dorf, nicht sterbend, mit intakter Bergwelt drum herum, die die Jungs lieben. Nach der Wanderung schauen wir marokkanisches Fernsehen. Die Frauen dort sind sämtlich gestylt und ohne Kopftuch; der Unterschied zur Mehrheitsgesellschaft riesig.
Auf dem Dorf tragen alle Frauen Kopftuch und sind für uns unsichtbar. In den Küchen, als fleißige Bienchen, stumm. Für die meisten Frauen ist dieses Land auf ganz andere Art ein Gefängnis. Die Jungs haben immerhin ihre Träume: USA, Europa, die Emirate. Aber für ernsthafte Versuche scheint all das zu unerreichbar. Vor drei Jahren hat es irgendein Schwippschwager tatsächlich ins Traumziel USA geschafft. Wie hat er das geschafft?, frage ich Amine auf der Dachterrasse. „Er hat in Marrakesch in einem Hotel gearbeitet und eine Amerikanerin kennengelernt. Sie hat ihn geheiratet.“ Oft der einzige Weg, der noch nicht von Stacheldraht verschlossen ist. Samir zeigt mir ein Video auf seinem Handy, das gerade populär ist. Darin sagt der König, dass Marokko ein starkes Land sei, das sich vor niemandem verstecken muss. Die Jungs feiern das.