Offene Türen

Die Stadt, wie wir sie im Normalfall gesehen hätten, ist kaum vergleichbar mit der Stadt, wie wir sie jetzt sehen. Wir sind in Ouezzane, einer für die meisten europäischen TouristInnen eher bedeutungslosen Kleinstadt von 60.000 Menschen im Norden Marokkos. Sie sah nach nicht viel aus, eine breite Hauptverkehrsstraße, die üblichen Obst- und Gemüsestände, der Trubel aus hupenden Autos und Eselskarren. Aber es ist eine Stadt wie ein Zauberschloss. Wo wenige hinkommen, entscheiden sich Menschen, die Türen zu öffnen.

In Marokko öffnen sie die Türen ständig und mit bestechender Selbstverständlichkeit. Eine Einladung zum Tee, eine Einladung zum Essen oder eine zum Bleiben, manchmal tagelang. Wenn Menschen einen hier übers Ohr hauen wollen, tun sie das wesentlich nachdrücklicher und effektiver als anderswo. Wenn sie nett sein wollen, sind sie großzügiger als fast überall anders. Und so sehen wir die Stadt in Begleitung von Nur-Din und Said, zwei alten Männern, die Englisch und Französisch sprechen und beschlossen haben, uns ihren Heimatort zu zeigen. Sie nehmen diese Aufgabe sehr ernst, sie führen uns in jeden Hinterhof. Und erhoffen sich auch ein bisschen davon.

Und es ist, als stiegen wir mit einer magischen Brille in ein Schloss hinein. Hinter jeder banalen Tür verbirgt sich plötzlich eine Geschichte, eine weitere Tür, ein geheimer Raum. Allein hätten wir sie nie gefunden.

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Bemalte Kacheln, verzierte Torbögen, sorgsam geschnitzte Türen: die Altstadt von Ouezzane, die Medina, ist atemberaubend schön. Bloß, dass sie hier den Menschen gehört, nicht den TouristInnen.

In den schmalen Gassen drängt sich ein Laden an den anderen, winzige Geschäfte, in denen ein einzelner Mann sitzt, der schneidert, schnitzt, schmiedet, webt. Handwerk und Kunstfertigkeit sind allgegenwärtig. Die verwinkelten Straßen erstrahlen in Weiß, Grün oder Blau, weiter vorne gibt es den Souk mit Unmengen an Obst und Gemüse, weiter hinten einen Gewürzladen mit säckeweise Zimtstangen, Pfeffer und Gewürzen in allen Farben. Wahre Klischees, aber keine Ware Klischee.

Nichts aber übertrifft die Zahl an Läden, die Wollmäntel verkaufen. Eine absurde Menge davon reiht sich aneinander. „Ouezzane ist das marokkanische Zentrum des Wollhandels“, erklärt Nur-Din, der Redselige, während Said oft schweigt. Wegen der vielen Schafe in der Region sei man darauf spezialisiert, aber durch Corona sei die Nachfrage eingebrochen. Das Flair eines Mittelaltermarktes lädt zur Sehnsucht ein, aber nicht alles hier ist Romantik.

Ein Mann, der uns für drei Tage zu seiner Familie einlädt, erzählt einmal, in Ouezzane seien sehr viele Menschen arbeitslos. „Es gibt keine Sozialhilfe, sie haben nichts.“ Immer wieder hören wir: Es lebe sich gut hier, die Sonne, das gute Essen, der Zusammenhalt. Aber die Versorgung, vor allem die Gesundheitsversorgung, sei sehr schlecht, die öffentlichen Krankenhäuser eine Katastrophe, die Korruption der Eliten dramatisch. Und über den König schimpft man nur im Geheimen.

Wer Leute in der Firma einstelle, sagt der andere Mann, müsse Sorge haben, dass sie stehlen. Daher die Neigung, Verwandtschaft einzustellen. Er empfindet die EuropäerInnen als viel korrekter. Seine Geschichte bleibt hier unerzählt. Eine Freundschaft ist kein Material für eine Geschichte. Aber Fremde über Tage zu sich einladen und bewirten? In Deutschland undenkbar.

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Das Zentrum des Wollhandels (und des Olivenöls) hat viele Geschichten, und viele davon sind unsichtbar. Nur-Din und Said machen sie sichtbar für uns. Wir biegen in noch schmalere Gassen ab, überall blau gestrichen. „Weil es das jüdische Viertel war“, sagt Nur-Din. „Als ich Jugendlicher war, in den Siebziger Jahren, haben noch Juden hier gewohnt.“ Dann seien sie nach Israel gegangen. In vielen marokkanischen Städten gab es das jüdische Viertel, die Mellah. In Ouezzane aber ist eine gewisse Bedeutung geblieben: für JüdInnen wie für MuslimInnen sei die Stadt bis heute ein Pilgerort.

Und ein Ort, wo man miteinander klar kommt. In einem heruntergekommenen Hinterhof zeigen unsere Begleiter auf den Eingang eines Wohnhauses. Hier war einst die Synagoge. Sie zeigen auf die Tür gegenüber, eine Moschee. „Das war kein Problem“, sagt Nur-Din mit gewissem Stolz. Im Gegensatz zu vielen Marokkanern, die sich sehr klar solidarisch mit den PalästinenserInnen positionieren, hält er sich zurück.

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Viele der alten Häuser sind einsturzgefährdet oder die Hinterhöfe mit Schutt und Metallstangen übersät, aber ihre Geschichten sind allgegenwärtig, wenn man sie zu lesen weiß. Hier, in den beiden Löchern in der Wand, wurde einst Butter gekühlt, bevor es Kühlschränke gab, zeigt Nur-Din. Diese Moschee dort war einst eine Kirche der Franzosen. 1956 zogen sie ab, im Geburtsjahr von Nur-Din. Und dort, wo heute ein Berg Metallstangen liegt, war die alte Karawanserei, wo man nach langer Reise den Esel unterbrachte.

Kein Schild weist irgendwo auf so etwas hin. Ich frage, warum niemand kommt, um all das zu sehen. „Wir machen wohl zu wenig Werbung“, erwidert Nur-Din trocken. Ich sage, das sei auch Glück, weil es hier unberührt geblieben sei. Er findet es auch gut, aber aus anderem Grund: „Wenn Touristen kommen, steigen die Preise.“ Künftig solle aber Geld vom Staat kommen, auch, um zu restaurieren.

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Die kunstvollen Mosaike, die achteckige Moschee Zaouia mit den leuchtend grünen Ziegeln, die sandfarbenen Bögen der Gebäude, all das ist wie aus einem Märchen. Und wie fast alle marokkanischen Städte ist Ouezzane ein Dorf. Jeder spricht mit jedem. Auch wir werden gelegentlich einbezogen, Schuljungs testen strahlend ihre Englisch- oder Französisch-Kenntnisse. Bei den arbeitenden Handwerkern stehen alle Türen offen; Schneider nähen und plaudern. Und mit jedem, egal ob arm oder wohlhabend, wechseln Nur-Din und Said ein paar Worte. Bei irgendeinem Schwippschwager, der Weber ist, gehen wir einen Minztee trinken.

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Es ist eine soziale Haltung und Empathie, die wir fast überall erleben. Oft ist die Wärme faszinierend. Und manchmal ist sie erdrückend, Privatsphäre gibt es nicht. Sich gegen Erwartungshaltungen zu wehren, muss schwer sein. Türen stehen eben offen, NachbarInnen wissen alles. Wir können keine Minute auf der Straße stehen, ohne angesprochen zu werden. Aber überwältigend ist die Kehrseite der Medaille: die Hilfsbereitschaft, die Sozialkompetenz, das ehrliche Interesse. „Das ist anders als in Europa, oder?“, fragt Nur-Din spöttisch, es klingt eher wie eine Feststellung. Er hat mal ein paar Jahre in Frankreich gelebt. „Nach Jahren kannte ich immer noch keinen Nachbarn. Die Leute haben einfach den Kopf gesenkt.“

Er hat eine einfache Erklärung für das verkümmerte Sozialleben: den EuropäerInnen fehle es an Zeit. Die müssten extra Termine machen, um FreundInnen zu treffen. Er lacht darüber. Ich frage den Weber, wie lange er für eine Decke braucht. „Wenn ich Aufträge habe, brauche ich einen Tag“, sagt er. „Wenn ich keine Nachfrage habe, nehme ich mir vier, fünf Tage Zeit.“

Jäh geht mir in den Gassen von Ouezzane der Begriff „entfremdete Arbeit“ durch den Kopf. Und das Gegenteil davon. Die Schneider demonstrieren stolz ihre selbst gebastelten Maschinen, aus alten Fahrradketten und Satellitenschüsseln: einst eine Maßnahme, um die Kinderarbeit in der Branche zu beenden. Die Güter, die hergestellt werden, die Mäntel, die Pfeifen, sind alle persönlich verziert. Die Arbeitszeiten sind lang, aber hektisch sind sie nicht. Und sie nehmen sich Zeit, haben Sozialleben, Sinn.

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Diese Handwerker sind zigfach weniger effizient als eine Fabrik, und den Kräften des Marktes ausgeliefert. Sie wechseln nicht in der Krise den Job, sie harren auf bessere Zeiten. Die Weberfamilie ist erleichtert, dass wir ihnen eine Decke abkaufen, denn sie verkaufen gerade fast nichts. Erst ein Tag in Ouezzane macht deutlich, was Wohlstand kostet. Aber auch, welchen sozialen Preis eine Gesellschaft dafür zahlt.

Die Gespräche der Straße, die Großzügigkeit, die entspannte Haltung zu sehr vielen Dingen. Und das Fehlen taktischer Höflichkeit. Es ist schwer, das zu beschreiben, ohne zu exotisieren. Wir sehen zwei Jungs, die sich ein Paar Inliner teilen, jeder fährt auf einem. Als der Parkplatz-Wächter hört, dass wir wegen dem Straßenlärm schlecht geschlafen haben, besteht er darauf, zu helfen, dass wir an eine bessere Stelle wechseln. „Es ist der Preis der Zivilisation“, sagt Nur-Din einmal. Vielleicht ist er zu hoch.

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Ganz ohne Eigennutz aber ist all das und auch dieser Ausflug nicht. Es wird anders bezahlt. Die beiden Männer verschaffen den Verwandten und Bekannten ein bisschen Kundschaft, und am Ende fragen Nur-Din und Said, die nicht wirken, als ob sie viel hätten, nach Euro-Münzen und Alkohol. Letzteren bitte in der Tüte versteckt, damit die Nachbarschaft das nicht sieht.

Der Ort: Ouezzane

Was man da machen kann: Auf jeden Fall in die Medina gehen. Die vielen kleinen Läden sehen und die Handarbeit mit einem Kauf wertschätzen. Verhandeln wird erwartet.

Und sonst: Die Neustadt mit ihrem hektischen Gewusel, den riesigen Märkten und vielen Jugendlichen. Ouezzane ist klein, man erreicht alles problemlos zu Fuß. In den meisten marokkanischen Städten kann man überall auf Brachflächen oder am Straßenrand parken. Viele Männer verdienen sich als freiberufliche Parkplatzwächter einen Lebensunterhalt.

Wo man gut essen kann: Wir waren mit Nur-Din und Said in einem namenlosen Lädchen in der Neustadt, wo es die traditionelle Suppe Harira und super gute Hähnchenspieße mit Pasten gab. Wie man dort kauft, ohne zu viel zu zahlen, wurde uns so beigebracht: Vorab müsse man den gewünschten Preis sagen, also: „Ich möchte für soundsoviel Dirham hier essen.“ Suppe dürfe in solchen Buden fünf Dirham kosten, etwa fünfzig Cent. Eine große Mahlzeit wie Tajine dürfe 3,50 Euro kosten.

Veröffentlicht von

Alina Schwermer

Freie Journalistin, schreibt viel für die taz, für die Deutsche Welle, aber auch für die Jungle World und wer sie sonst so fragt. Am liebsten über Sport und Reisen. Wollte nie einen Reiseblog machen und hat nicht lange durchgehalten.

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