Nicht hierher, nicht dorthin

Die Straße, die wir fahren, macht niemandem Spaß. Neun Stunden lang rast der Reisebus von Tagounite nach Marrakesch, einen Großteil davon über Serpentinen durchs Atlas-Gebirge und die vorgelagerten Bergkämme. Die Kulisse ist atemberaubend, die Kurven auch. Ist ein LKW zu langsam, wird überholt. Mindestens drei Leute kotzen. Zwischendurch gibt es Stopps an Tankstellen und Restaurants nach bewährtem Klassenfahrt-Prinzip: alle von Bord, in einer halben Stunde sollen alle wieder da sein. Was recht gut klappt, weil der Fahrer die Meute sehr bestimmend wieder zusammentreibt.

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Die ältere Dame, die mich anspricht, ist keine von denen, die kotzen. Sie hat eine erhabene Aura, ein bisschen wie eine alte Hollywood-Schauspielerin, und sie tritt völlig selbstverständlich mit anderen in Kontakt. Sie ist Marokkanerin, aber natürlich lebt sie nicht in Marokko: Keine lokale Frau vom Dorf spricht eine fremde Reisende einfach an. In zweieinhalb Monaten ist mir das jedenfalls nie passiert. Ich kenne hier nur Männer. Und kaum eine auf dem Land würde sich so kleiden wie sie. Sie trägt das Kopftuch aufreizend lässig, mehr als Sonnenschutz. Die ältere Dame ist hier geboren, aber sie lebt in Paris, „seit fünfzig Jahren“. Und sie ist es, die das Gespräch dirigiert, warm und bestimmt, fragend und erzählend.

In einem Café setzen wir uns in die Sonne. Sie isst die Tajine nach lokaler Art mit der Hand, das Fladenbrot als Gabel nutzend, wie früher. Ursprünglich kommt sie aus einem Kaff hier am Rand der Wüste. Sie sei alle ein, zwei Jahre in der Gegend und in Casablanca bei Verwandten zu Besuch. Ob sie emotional etwas verbindet mit den Dörfern und ihren Märkten, dem Gewusel und dem Gemüse, der sozialen Nähe und der sozialen Enge? Dass ich das Dorf Tagounite, wo ich gerade herkomme, sehr liebe, kann sie nicht begreifen.

„Ich finde es hässlich“, entgegnet sie brüsk. „So viele angefangene Gebäude, so viel Verfall.“ Erst beim nächsten Besuch fällt mir auf, dass sie mit den Bauruinen Recht hat – ich habe sie nie bewusst bemerkt. Aber ja, lenkt sie ein, die Leute dort seien sehr korrekt. Auch damit hat sie Recht, kaum jemand hier verlangt überzogene Preise. Einige sind explizit stolz drauf, Reisende gleich zu behandeln.

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Die Frau kommt von hier, und ist doch weit weggekommen. Modedesignerin ist sie gewesen in Paris, sie spricht perfektes Französisch. Sie zeigt mir alte Fotos von sich als junge Frau, in selbst entworfenen Lederjacken und Blusen im Achtziger-Look, ohne Kopftuch. Sie war sehr schön. Als ich das sage, erwidert sie nur: „Und schau, wie ich jetzt aussehe.“

Aber sie wirkt nicht wie eine Person, die mit dem Alter unglücklich ist. Sie will viel von mir hören, mit der Selbstverständlichkeit eines Menschen, der oft mit jungen Leuten zu tun hat. Sie erzählt von der Mode: Wie sie die Stücke nicht gezeichnet, sondern bloß im Kopf entworfen und dann an einem Model ausprobiert und nachgebessert hat. Wie sie erst für eine Firma entwarf und sich später selbstständig machte, mit einem Ex, was nicht so gut lief. Überhaupt gab es viele Männer.

„Ich mag die Deutschen, die sind sympathischer als die Franzosen“, sagt sie und zählt ein paar deutsche Liebhaber auf, Dieter, Herbert, lange her. Die Namen klingen heute alt. Sie hat viel gelebt und geliebt. Sie lacht: „Ich war jung.“ Nachdem das mit der einen Firma und dem Mann schief ging, arbeitete sie freiberuflich. Heute schreibt sie an ihren Memoiren, aber was daraus werden soll, weiß sie noch nicht richtig. „Vielleicht veröffentliche ich sie, vielleicht nicht.“

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Und überhaupt ist sie unsicher, was in Zukunft werden soll. „Ich bin der Franzosen ein bisschen überdrüssig.“ Sie trägt sich mit dem Gedanken, hierher zurückzukehren. Sie bewundert die Berglandschaft, die wir von der Terrasse des Restaurants sehen, so rau und nicht von Menschenhand geformt. „So brutal.“ In Frankreich beklagt sie das, was viele MarokkanerInnen beklagen: die soziale Kälte, die Einsamkeit. Andererseits: „In Marokko ist es auch hart.“

Mit den Frauen und Männern auf dem Dorf sei es schwer, tiefgründiger ins Gespräch zu kommen, und alles, worüber die dann reden könnten, sei der liebe Herrgott. „Mir ist das alles egal, ich ziehe mich an, wie ich will.“ Ob sie nach all den Jahrzehnten hier noch reinpasse? Auch von Marokko hat sie sich entfremdet. „Ich bin mittlerweile zu 80 Prozent Europäerin.“ Sie erinnert mich an eine jüngere Frau, die ich später treffen werde, auch die hat zehn Jahre in Frankreich gelebt, gearbeitet in der Filmbranche. Auch die ist frustriert von Europa und vom Rassismus.

Als Marokkanerin habe man ihr nicht ermöglicht, in dem Bereich zu arbeiten, auf den sie spezialisiert war. Und so kam sie nach Marokko zurück, um nochmal ganz neu anzufangen. Und fand sich doch wieder eingeengt von der sozialen Wärme und Enge, von ständigen Verwandschaftsbesuchen und den Fragen, wann sie denn endlich heirate und so fort. Irgendwann, sagte die Jüngere, will sie vielleicht wieder in Frankreich leben. Es ist schwer, sich noch irgendwo zugehörig zu fühlen, wenn man weggekommen ist. Nicht hierher, nicht dorthin.

Bevor wir weiter nach Heimat suchen können, scheucht uns der aufgeregte Busfahrer wieder zurück. „Was macht ihr denn noch hier? Die halbe Stunde ist schon lange um!“ Die Dame aber lässt sich nicht hetzen. Sie habe ihre Tajine, entgegnet sie entrüstet, ja noch nicht mal bezahlt. Und jetzt erst mal in aller Ruhe.


Der Ort:
Die Strecke von Tagounite nach Marrakesch

Was man da machen kann:
In Tagounite gibt es wunderschönes alltägliches Leben. Donnerstag und Sonntag ist Markt, eigentlich wird aber ständig überall am Straßenrand verkauft, zum Beispiel Gewürze, Gemüse, Datteln, Gebrauchsgegenstände. Fast alle Menschen sind atemberaubend nett, mit allen kann man plaudern.

Wo man gut essen kann:
Das Hotel Bille Ville hat eine Terrasse, wo es zum Beispiel gutes Omelette-Frühstück gibt. Man kann aber auch an vielen Straßenständen Tee, super Fleisch-Sandwiches oder die Suppe Harira bekommen.

Wo man was trinken kann:
Alkohol ist offiziell verpönt, inoffiziell sieht das anders aus. Bier und Wein gibt es aber nur auf Campingplätzen, im Hostel oder über private Kanäle. In den Bars trinkt man Minztee. Ein guter Hangout-Spot ist die Sahara Expertise, eine stets gefüllte Bar, die auch Fußball auf Großleinwand zeigt und eine Dachterrasse hat.

Veröffentlicht von

Alina Schwermer

Freie Journalistin, schreibt viel für die taz, für die Deutsche Welle, aber auch für die Jungle World und wer sie sonst so fragt. Am liebsten über Sport und Reisen. Wollte nie einen Reiseblog machen und hat nicht lange durchgehalten.

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