Der Hüter der Dinosaurier

Mustafa fängt uns ab, bevor wir aufgeben können. Er kommt wissend herbei, als wir am windigen Strand von Ansa auf dem vom Meer überspülten Gestein herumsuchen. Der Mann, der eigentlich anders heißt, trägt eine gelbe Warnweste, das Zeichen vieler Menschen in Marokko, die in prekären, selbst geschaffenen Jobs arbeiten. Als Parkplatzwächter, Guides oder spontane Helfer für alles. Wer es in dem überquellenden Angebot schafft, tatsächlich eine Nachfrage zu erfüllen, kann sich am Tag ein paar Dirham, je zehn Cent, verdienen. Mustafa ist selbst ernannter Dinosaurier-Guide. Wo es wenig Arbeit gibt, schafft man sie sich selbst. Und manchmal blüht von dieser Eigeninitiative ein Ort.

Ansa ist ein Touri-Ort. Und auch eine der wichtigsten Fundstellen für Saurierspuren, erst vor ein paar Jahren wurden sie entdeckFleischfresser und Pflanzenfresser, Flugsaurier und Landtiere, erwachsene Saurier und Jungtiere haben ihre Fußabdrücke hier im Gestein gelassen. Ihre Klauen, Stampfer und Schwanzabdrücke sind in Ansa, im Süden Marokkos nicht weit von Agadir, für eine endliche Ewigkeit bewahrt. Ein historischer Schatz. Nur, dass es so ist wie mit allen Fundstellen, wo es kein Geld gibt: Sie liegen ungeschützt, ohne Museum, ohne Eintrittsgelder, der Erosion ausgesetzt. Es gibt keine Website, und ohne Ortskundigen findet man sie schwerlich. Die Abdrücke sind aber auch Mustafas Wunder. Und die Hoffnung einer Stadt.

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In einem Land, wo vieles spontan passiert, ist es leicht, eine Führung innerhalb einer Minute zu bekommen. Mustafa ist ein Mensch voll überschäumender Energie. Er eilt durch das Reich der Spuren, jedes vermeintliche Loch im Stein ist plötzlich eine Geschichte. Ohne ihn hätten wir wenig von alldem verstanden oder überhaupt gesehen. Mustafa erklärt jedes Detail: Aus welcher Richtung dieser Saurier gelaufen ist, ob er spazierte oder floh; wo der Flugsaurier seine Schwingen aufgesetzt hat, wie man Männchen und Weibchen unterscheidet, wie die Abdrücke entstanden. Und immer wieder zeichnet er professionell wirkende Comic-Saurierbilder in den Sand. Ob er all das studiert hat, frage ich. „Nein, nein. Ich habe einfach den Wissenschaftlern zugehört, die hier waren. Ich möchte den Leuten weitergeben, was sie erklärt haben.“

Mustafa ist eine der schillernden wie großzügigen Personen, auf die wir hier immer wieder treffen. Das Geld nimmt er zwar an, aber eigentlich gehe es ihm nicht darum. „Touristen haben mir auch schon gesagt: Mach doch ein Geschäft mit deinen Saurierbildern. Aber das brauche ich nicht, Geld verdiene ich in anderen Jobs. Ich will, dass die Leute lernen.“ Er macht das einfach, um zu helfen. Mustafa kommt aus Ansa. Dass man in diesem Kaff vor ein paar Jahren Saurierspuren fand, ist für ihn das größte Geschenk. „Ich kannte die bisher nur aus Jurassic Park. Und eines Tages wachst du auf und sie sind hier, bei uns in Ansa.“

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Ein Ort, der keine Zukunft zu haben schien. Mustafa zeigt um uns herum. „Schau dich um. An diesem Strand konntest du vor ein paar Jahren nicht stehen, so sehr hat es gestunken. Der Ort war voll von Fabriken, die ihr Gift ins Meer geleitet haben. Das Wasser war eine Brache, überall lag Müll.“ Dann habe man begonnen, gegen den Dreck und die Abwässer zu lobbyieren. In Ansa gibt es offenbar das, was uns sonst selten begegnet in einem autokratischen Land mit wenig Hoffnung: eine engagierte und erfolgreiche Zivilgesellschaft. Mustafa, der auch als Künstler arbeitet, berichtet, wie er und seine Mitstreiter:innen soziale Organisationen aufbauten, für die Jugend und die Frauen. Eigentlich würden alle Jugendlichen hier nur nach Europa wollen. Um das Geld für den Schmuggler zusammenzukriegen, würden sie Drogen verkaufen. „Dann landen sie im Knast und ihr Leben ist vorbei.“

Er selbst habe die Möglichkeit, zu gehen, er habe Kontakte nach Europa. Und lange habe er nachgedacht. „Aber ich möchte bleiben, mein Platz ist hier.“ Inmitten eines Landes, wo das Weggehen die einzige Lösung scheint, ist hier jemand, der bleibt – und verändert. Schließlich, erzählt Mustafa, habe der König eine Anordnung gegeben: die dreckigen Fabriken sollten weg, Ansa solle touristisch werden. Nicht, dass heute alles besser ist. Das Meer ist jetzt zwar viel sauberer, aber die Fischer könnten mit den großen Konzernen nicht mehr konkurrieren. Nun, sagt Mustafa trocken, arbeiteten sie in der Fischfabrik. Und trotzdem: die Luft, der Strand, das Wasser, alles sei sauberer jetzt. Und dann: die Spuren.

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Die ganze Gegend ist reich an prähistorischen Abdrücken. In den Bergen, erzählt Mustafa, gebe es noch viel mehr prähistorische Spuren, die niemand je wissenschaftlich erforscht habe. „Es fehlt das Geld. Aber überleg mal, was man daraus alles machen könnte.“ Und weil niemand macht, macht Mustafa selbst. Mit einem Freund ist er dabei, ein kleines Museum für versteinerte Funde aufzubauen. Auch die Fußabdrücke sollen dort eines Tages in Gips zu sehen sein. Er träumt außerdem davon, die Abdrücke am Wasser schützen zu können. Und die Reichtümer des Landes. „Überleg mal“, sagt Mustafa, „die ganzen Saurierskelette sind in Museen in Europa. Aber wo wurden sie gefunden? In Marokko zum Beispiel. Sie werden hier aber nicht ausgestellt.“ Dinosaurier XY. Fundort: Marokko. Über koloniale Raubgüter mag es Debatten geben, neuere Funde spielen darin kaum eine Rolle.

Läge Ansa in Deutschland, würde der Ort von einem Saurier-Museum und neuen Jobs profitieren. In Ansa gibt es das nicht. Die Menschen, klagt Mustafa, seien nicht informiert über den Wert der Funde. „Hier gab es viele Ammoniten. Die Leute haben sie umgerechnet für ein paar Euro an Europäer verscherbelt. Sie dachten, sie hätten ein tolles Geschäft gemacht. Jetzt gibt es hier keine mehr. Nur gefälschte.“ Schätze des Landes, zum Ramschpreis ausverkauft, mal wieder.Aber auch mit dem heimischen Konservatismus muss Mustafa sich herumschlagen. In einer Höhle weiter oben, erzählt er, seien prähistorische Malereien gefunden worden. „Aber offiziell werden sie nicht gezeigt. Die Leute halten das für Sünde, weil Allah den Menschen geschaffen habe. Oder sie halten es für Lüge.“ Manchmal passiert ihm das auch bei den Saurierspuren. Ein Frommer, der nach Mekka gepilgert sei, habe behauptet, die Spuren stammten nicht von Sauriern, sondern von Heiligen. Mustafa kämpft an allen Fronten.

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Und er erzielt Erfolge. Die Frauen hier, sagt er, würden dank der neuen Tourismusjobs selbstständiger. Einigen hätten begonnen, zum Beispiel als Rezeptionistinnen zu arbeiten und seien nicht mehr vom Geld des Mannes abhängig. Sie wollten jetzt sein wie die einheimischen Frauen aus Agadir, die als Touristinnen herkommen. Sein Museum ist in Arbeit. Und er hat tausend Ideen mehr. „Warum machen wir nicht hier auf dem Plateau ein Open-Air-Kino, in dem Jurassic Park läuft? Vorher macht man eine Führung und dann schaut man abends den Film. Aber die alten Männer in der Politik kommen nie auf solche fjurassicIdeen, alles muss man selbst machen.“ Und Mustafa macht. Und solange es Menschen wie ihn hier gibt, ist Ansa im Aufbruch. Es kämen jetzt auch Tourist:innen nur wegen der Spuren hierher. Und manche kämen wieder, weil ihnen die Führung so gut gefiel. Mustafa sagt: „Diese Spuren sind ein Wunder.“

Der Ort: Ansa, in der Nähe von Agadir

Was man da machen kann: Zum Beispiel Fußspuren gucken. Am Strand von Ansa weist ein Schild darauf hin, dass es sie gibt. Mit einheimischem Guide um ein Vielfaches lohnender. Ansa ist auch ein beliebter Spot für Surfer:innen.

Wo man gut essen kann: Ein Restaurant hat auf den Funden tatsächlich ein Geschäftsmodell aufgebaut: das Restaurant Les Dinosaures ein Stück aufwärts entlang der Küste. Es gibt marokkanische Küche und Internationales mit Meerblick und viel einheimischem Touristen-Publikum. Für die meisten anderen Lokale gilt die übliche Regel: in touristischen Orten ist das Essen am teuersten und schlechtesten.

Veröffentlicht von

Alina Schwermer

Freie Journalistin, schreibt viel für die taz, für die Deutsche Welle, aber auch für die Jungle World und wer sie sonst so fragt. Am liebsten über Sport und Reisen. Wollte nie einen Reiseblog machen und hat nicht lange durchgehalten.

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