Hinterland

Die Stille des Nachmittags liegt über Lukovdol. An den Hauptplatz des kleinen kroatischen Dorfes kurz vor der slowenischen Grenze schmiegen sich die Pfeiler des öffentlichen Lebens wie in einer Miniatur aneinander. Das Haus des Bürgermeisters mit Flagge; die Post; eine gut instand gehaltene weiße Kirche, deren Putz ein wenig blättert.Nach hinten heraus liegt der Friedhof, makellos mit Blumen und einem riesigen, golden überzogenen Jesus. Die weißen und rosa Blüten der Kirsch- und Apfelbäume hängen still unter blauem Himmel.
Es liegt nicht an der Uhrzeit, dass hier wenig los ist, sondern an Lukovdol – noch etwa 150 Seelen leben in diesem Dorf. Touristische Massen kommen sicher nicht hierher. Sie tummeln sich, zumindest in gewöhnlichen Jahren, an der kroatischen Küste, in Istrien oder Dalmatien. Diese Regionen mögen das Meer haben, gute Küche und die malerischen Örtchen. Aber das kroatische Hinterland hat die Geschichten.
Die alte Frau öffnet bereitwillig das kleine Museum gegenüber der Kirche. Es ist das Geburtshaus des Dichters und Schriftstellers Ivan Goran Kovačić, der in Kroatien sehr bekannt ist. Es ist kühl. Wenige Räume zeigen Zeitartefakte, Kopien seiner Schriften, alte Fotos.

„Er hat vor allem Gedichte geschrieben über die Natur vor Ort“, erklärt die Museumsführerin. Spielend leicht rezitiert sie auswendig eines seiner Gedichte. Doch das ist nur ein Teil. Berühmt wurde der junge Mann vor allem mit einem Gedicht über die Schrecken des Krieges. Kovačić, mit nur 30 Jahren während des Zweiten Weltkriegs ermordet, war kommunistischer Partisanenkämpfer. Wie so viele hier in Gorski Kotar. Und so öffnet das kleine Museum am Dorfplatz in Lukovdol den Schlüssel zu einer Region.
Kaum irgendwo ist die Geschichte der Partisanen, die gegen den faschistischen kroatischen Vasallenstaat der Ustascha und die Achsenmächte kämpften, so sichtbar wie in dieser Bergregion. Wer Gorski Kotar bereist, kann überall Denkmäler sehen: das Denkmal der 26 erfrorenen Partisanen, eine Steinformation im Halbkreis auf einem Feld, mit Anleihen an Stonehenge. Das Denkmal für den Volksaufstand gegen die Achsenmächte in Delnice, oder für verschollene Skikämpfer in Begovo Razdolje. In anderen Teilen des Landes wurden diese Partisanen-Denkmäler zu Tausenden in den neunziger Jahren zerstört, als leidige Erinnerung an den Kommunismus. In Gorski Kotar werden sie dagegen gepflegt und besucht. Warum?

„Es herrscht eine andere Sicht auf Antifaschismus“, sagt der Historiker Vjeran Pavlaković von der Universität Rijeka, der sich mit Erinnerungskultur in Kroatien beschäftigt. „Schon vor dem Zweiten Weltkrieg gab es eine starke antifaschistische Bewegung in Gorski Kotar. Viele Arbeiter aus Gorski Kotar waren in Westeuropa gewesen und dort in kommunistische Parteien eingetreten. Die antifaschistische Haltung brachten sie mit zurück und rekrutierten in Gorski Kotar auch für den Spanischen Bürgerkrieg. Es ist hier ein Teil der regionalen Identität.“
Und doch ist das nicht nur die rührige Geschichte einer aufrechten linken Bevölkerung. Es gab auch eine andere Ausgangslage. In vielen Landesteilen war der Hass der Ustascha auf Serben, Juden, Roma keine unmittelbare Bedrohung für die kroatische Mehrheitsbevölkerung. „Dort werden jetzt die Faschisten rehabilitiert.“

In Gorski Kotar dagegen mordete die italienische Armee ohne Rücksicht auf die Ethnie. „Viele Bewohner waren Geflüchtete, die aus den italienisch besetzten Territorien nach Gorski Kotar kamen und wussten, was Faschismus war. Die Italiener hatten auch die kroatische Sprache verboten. Antifaschismus hat hier den Charakter eines nationalen Befreiungskampfes.“ Eine Idee, die rechte und linke Positionen verbinden kann, bis heute.
Man sieht der Landschaft in Gorski Kotar an, dass sie hervorragende Versteckmöglichkeiten bot für den Partisanenkampf derer, die sich auskannten. Eine bergige Gegend, durchzogen von großen Wäldern, tiefen Schluchten. Eine idyllische Landschaft.
Wer aus Lukovdol hinaus durch den gleich beginnenden Wald streift, entlang eines halb von Dornen überwucherten Wanderwegs, kann die Zeit vergessen. Es geht durch Laubwald über einen Bergkamm in Richtung des Dorfes Močile, kein Mensch ist hier. Nur ein paar Hochsitze und einige verfallene Steinruinen säumen den Weg.

Spechte klopfen auf Holz, das Geräusch hallt über den Berg. Einmal bricht rechts ein Reh aus dem Gebüsch, keine paar Meter entfernt. Nicht weit von hier, am Dorf Skrad, wo ein steiler Pfad in eine Schlucht führt, stieben auf unserem Weg mehrfach wilde Gämsen am Hang vorbei. Die Wälder sind überreich. In die Schlucht ergießt sich ein Wasserfall, weiter hinten liegt ein türkisfarbener See.
Es ist eine Region mit einem eigenen Weg. In den neunziger Jahren gelang es durch den beherzten vermittelnden Einsatz lokaler PolitikerInnen, Blutvergießen hier zu verhindern. Gorski Kotar, mit langer multikultureller Tradition, galt als „Insel des Friedens“. Bis heute lebt eine serbische Minderheit hier. Sie sei, so Pavlaković, sehr assimiliert. „Man hat eher eine Goranski-Identität, eine regionale Identität der Naturverbundenheit. Es ist einfacher, Gorani zu sein und Serbe als Kroate und Serbe.“
Nur Opfer, keine Täter Und doch, die Denkmäler zeigen nicht die Risse in der Erzählung. Sie zeigen Opfer, aber keine Täter. Externe Feinde, aber keine lokalen MörderInnen. Bewusst, meint der Historiker. „Das war vom sozialistischen Regime gewollt. Hätten sie sich auf die Ethnien fokussiert, wäre das im neu gegründeten Staat mit dieser schwierigen Geschichte sehr problematisch geworden. In der jugoslawischen Ära gab es ein Paradox: Erinnerung, aber auch Vergessen. Opfer und Verbrechen durch Partisanen wurden verleugnet. Diese Amnesie und diese Tabus haben unter der Oberfläche gebrodelt.“ Bis sie blutig hervortraten.

Und die Zukunft? Vjeran Pavlaković war Teil der RECOM, eines Projekts, das Menschen aus Serbien, Kroatien und Bosnien zusammenbringen sollte. Es gebe lichte Momente, aber es sei sehr schwer. Militanz und Opfererzählung bestimmten die Erinnerung weiter überall. „In Kroatien werden SchülerInnen verpflichtend nach Vukovar geführt, einen Kriegsschauplatz der neunziger Jahre, wo sie sehr traumatische Museen über serbische Kriegsverbrechen sehen und militante Narrative hören. Aber nicht zu Holocaust-Denkmälern, die eigene Schuld thematisieren. Das schafft den Nährboden für einen weiteren Konflikt.“

Die starke katholische Kirche mit ihrem Märtyrerkult trage das ihre zum Opfernarrativ bei. Und bei Wahlen in allen drei Staaten sei die Stilisierung zum Opfer weiterhin ein wichtiges Mittel. „Und irgendwo sind immer Wahlen.“ Immerhin, im Sommer 2020 habe die kroatische Regierung zum ersten Mal zivile serbische Opfer des Heimatkrieges anerkannt. „Das war ein großer Schritt.“ Auch die Partisanen-Denkmäler sieht Pavlaković kritisch. „Auch sie glorifizieren den Krieg. Sinngemäß: wenn ein Konflikt kommt, dann graben wir die Waffen aus und lösen das einfach so. Diese militante Erinnerungskultur ist nicht gut.“

Es muss nicht in die traumatische Vergangenheit schweifen, wer jenseits der Küsten unterwegs ist. Die atemberaubende Natur spielt in deutschen Erzählungen über das Land zu Unrecht kaum eine Rolle. Nicht nur Bergwelt wartet, sondern im Osten vor allem Sumpfgebiete, Marschlandschaften wie die in Lonjsko polje nahe der Grenze zu Bosnien. So tierreich und wild, dass sie beinahe fremd wirken, so nahe vor der europäischen Haustür. In Lonjsko polje, einem der am besten erhaltenen Feuchtgebiete Europas, treffen Natur und Kulturgeschichte aufeinander.
Ein Konzert erfüllt die Luft an jedem Tag. Es ist so eindringlich, dass es klingt wie im Dschungel. Das Geklapper der Störche, das Quaken der Frösche, das Zwitschern, Schreien, Rufen der Sing-, der Wasser- und Raubvögel, unsichtbar im Schilf oder Wald, das Grunzen des Viehs. Wasser ist überall. Es steht auf den Wiesen und den Weiden, es fließt in Kanälen und Flüssen. Nach eigenen Angaben leben im Naturpark Lonjsko polje 58 Säugetierarten, 43 verschiedene Libellensorten, 33 Fischarten und 250 Vogelarten, zwei Drittel der kroatischen Vogelpopulation. Diese Marschlandschaft ist ein ungewöhnlicher Ort.

Als Erstes fällt die Straße auf. Sie verläuft schmal über einen Deich, kilometerlang, damit das Gebiet bei Überflutung zugänglich ist. Alles hier ist aufs Wasser ausgelegt. Die kleinen, sorgfältig mit geschnitzten Verzierungen ausgestatteten Holzhäuser der DorfbewohnerInnen im Park, die krumm und schief stehen, als könnten sie jederzeit zusammenfallen, sind perfekt an Überflutungen angepasst. Ihre Erdgeschosse werden nur zum Lagern genutzt. Schmale Außenstiegen führen ins zweite Geschoss, wo die Menschen wohnen.
„Der Naturpark Lonjsko polje ist ein Überschwemmungsgebiet“, erklärt die Parkmitarbeiterin und Projektassistentin Tajana Vidakušić. „Die Auen werden auch als Hochwasserschutzsystem für den gesamten Teil von Zagreb bis zur Grenze zu Serbien genutzt. Das Hochwasserschutzsystem funktioniert so, dass Straßen, Dörfer und Menschen sicher sind, wenn Flüsse in Auenwälder, Auenwiesen und Weiden fließen.“ Der Park könne das ganze Jahr über besichtigt werden, auch bei Überschwemmungen. „Und gerade dann ist es ein besonderes Erlebnis, wenn sich Tieflandgebiete in ein großes Gewässer verwandeln.“

Eine große Besonderheit in Europa. Dreißig bis hundert Tage im Jahr regiert das Hochwasser, vor allem im Frühjahr und Herbst. Wer mit dem geliehenen Rad durch die Dörfer und über die Deiche von Lonjsko polje fährt, sieht Äcker und durchnässte Weiden, Seerosen, Sumpf und Schilf, Auenwiesen, alles mehr oder weniger feucht. Pferde und Kühe stehen dort frei, nach traditioneller Art; die Landwirtschaft ist ans Wasser angepasst, die Äcker und Obstgärten so gestaltet, dass sie als Letzte überschwemmt werden.
„Die Haupttätigkeit in den Dörfern ist die Landwirtschaft“, so Vidakušić. Bei vielen AnwohnerInnen kann man Käse, Eier oder Honig direkt an der Tür kaufen. Und überall sind Vögel. Im Dorf Čigoč ist gefühlt jedes zweite Haus von einem Storchennest bedeckt. Doch nicht alles hier ist Romantik.Die Häuser und kleinen Höfe, aus denen abends Musik klingt, sind sichtlich arm. Die historische Region Slawonien zählt zu den ärmeren Kroatiens. Tajana Vidakušić erklärt: „Das Hauptproblem in dieser Gegend ist heute die Überalterung der Bevölkerung, die Abwanderung junger Menschen in Städte, aber auch in andere Länder. Es gibt keine Fabriken oder industrielle Produktion in dieser Gegend, und junge Leute müssen von irgendwas leben.“

Der Park werde größtenteils staatlich finanziert, teils auch durch eigene Einnahmen über Tourismus. Wie überall war das Jahr 2020 ein schwieriges – wo sonst EngländerInnen, FranzösInnen und Deutsche kommen, kamen nun vorwiegend Leute aus Kroatien. Trotzdem sagt Vidakušić, in Bezug auf die Konkurrenz zur Küste könne man sich gut platzieren: „Wettbewerb ist kein Problem, gerade weil jedes Schutzgebiet auf seine Weise einzigartig und besonders ist.“ Dieses hier zeigt traditionelles menschliches und tierisches Leben zusammen. Eine vorwiegend friedliche Koexistenz. Am deutlichsten sieht man das auf dem Lehrpfad in Krapje. An saftigen Wiesen voller Löwenzahn entlang führt der Pfad zu einem kleinen Sumpfgebiet, in dem eine riesige Löffler-Kolonie lebt. Ein Schwan brütet im Nest, Blässhühner paddeln übers Wasser, Reiher stehen majestätisch am Rand. Am Himmel kreisen Greifvögel. Und auf dem Weg dorthin, auf den feuchten Weiden, stehen jene Tiere, die zwischen Mensch und Wildnis leben: autochthone Nutztierrassen, die hier ihre Wurzeln haben.

Die kräftigen, ruhigen Posavina-Pferde mit wallenden Mähnen, die einst zum Ackerbau genutzt wurden. Tiere im Matsch, die von weiter weg mit ihrem weißen, lockigen Fell wie Schafe aussehen – und Schweine sind. Turopolje-Schweine, eine uralte und mittlerweile gefährdete Art. Auch sie ist an die Überflutungen vor Ort angepasst. Turopolje-Schweine können schwimmen und tauchen und fressen sogar Muscheln. Und auf dem weiten Grasland, das sich anschließt, stehen podolische Rinder mit riesigen Hörnern. Die Rinderherde vor bläulich schimmernden Hügeln am Horizont hat etwas von europäischer Serengeti. Beides, die Denkmäler und die Natur, sind ein allerbestes Argument für einen Umweg, wenn die deutsche Karawane bald wieder an die Adria rollt. Mehr sehen, nicht nur Meer sehen.

Veröffentlicht von

Alina Schwermer

Freie Journalistin, schreibt viel für die taz, für die Deutsche Welle, aber auch für die Jungle World und wer sie sonst so fragt. Am liebsten über Sport und Reisen. Wollte nie einen Reiseblog machen und hat nicht lange durchgehalten.

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