Himmel, Hölle und Wellen

Die Fähre, die uns alle nach Marokko bringt, ist eher ein Kreuzfahrtschiff. Meine Vorstellungskraft, die beim Wort Fähre an einen wackeligen Nordsee-Kutter dachte, ist gesprengt von diesem neunstöckigen Riesen mit Cafés und Restaurants, mit Shops und Casino und Club und Swimming Pool. Die Wellen sind nur als leichtes Zuckeln spürbar, Schwärme von Delfinen ziehen am Bug entlang. Und alle sind hier.

Europäische Hipster mit Expeditionsmobilen, spanische BikerInnen und deutsche Familien Typ Grünen-Wähler, Hunderte marokkanischer Arbeiter auf dem Weg in die alte Heimat, die vielleicht keine mehr ist, alte Männer in Kaftanen und wenige, zurückgezogene begleitende Frauen, philippinische Seeleute und Putzkräfte, die unsichtbar sind, und italienisches Personal, das die guten Posten hat und sehr sichtbar ist, alle zusammengepfercht – sofern man das für einen gigantischen Kreuzer sagen kann – für 52 Stunden.

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Es heißt oft, das Letzte, was verschiedene Milieus zusammenbringt, sei der Fußball, aber das stimmt nur bedingt. Das Letzte, was sie wirklich alle zusammenbringt, ist die Fähre. 52 Stunden von Genua nach Tanger, alle sehen alle, und doch in Kreisen, die einander kaum berühren. Fährschiffe sind ein brutaler Ausdruck der Klassengesellschaft, einerseits. Und andererseits zeigen sie nur ehrlich, was sich sonst hinter Kiezen, Milieus, Nachbarschaften und warmen Worten verbirgt. Hier kann nicht jeder alles erreichen, alle sind Männer und Frauen ihrer Klasse. Und beweglich ist das Ganze doch.

Der Europäer quatscht mich am zweiten Tag an, auf dem Sonnendeck. Wir stehen in Barcelona vor Anker. Ob wir in Barcelona zugestiegen seien, will er wissen. Nein, sage ich, Genua. „Achso“, erwidert er auf Englisch, „ich wollte mal abchecken, wer hier die Neuen sind. Cheers.“ Es ist das mit Sicherheit seltsamste Gespräch dieser Reise und an diesem Punkt zu Ende.

Wohnlich und erdrückend

Er ist Kategorie 1, denke ich, ganz oben. Es gibt hier keine erste, zweite und dritte Klasse, aber es fehlt nur der Name, um sie so zu benennen. In dem teuren Restaurant à la carte sitzen nur weiße EuropäerInnen. Wirklich hundert Prozent. Die MarokkanerInnen essen in der Kantine, wo das Essen schlechter und günstiger ist. Tagsüber sind die Europäischstämmigen kaum zu sehen, sie zahlen hier für Privatsphäre. Auf den Schlafstühlen, der billigsten Kategorie, liegen nur marokkanische Männer. Sie sind immer zu sehen. Sie verbringen den Tag am Heck und spielen Karten, Stunden über Stunden. Das Heck ist in ihrer Hand. Jeder kennt jeden dort, und wir trauen uns nicht, diese unsichtbare Wand zu durchbrechen. Es ist wohnlich bei ihnen und gleichzeitig erdrückend ohne Privatsphäre. Wie auf der Titanic.

Die Frau, die uns am ersten Tag anspricht, steht zwischen den Welten. Sie stellt sich vor als Kölnerin aus Ehrenfeld, und „eigentlich Marokkanerin“, so sagt sie das; sie ist allein unterwegs mit Bulli und fällt auf. Weil sie allein reist, weil sie kein Kopftuch trägt und anders gekleidet ist als all die Ehefrauen, und überhaupt. Sie ist cool. „Ich hab mich in Marokko selbstständig gemacht“, erzählt sie, in Köln ist sie nur noch wenige Monate im Jahr. Wir reden viel über Wohnwagen, übers Reisen. Eines Tages sei es ihr Traum, mit dem Wagen um die Welt zu reisen und zu arbeiten. „Wenn ich das Geld hab.“ Dafür geht sie in das Land zurück, das die Männer verließen, um Geld zu verdienen. Paradoxe Wanderbewegungen der Welt.

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Anders als der Mann, mit dem wir am zweiten Tag sprechen; er hat seine Heimat gerade erst verlassen. Er ist Filipino und putzt hier, die Gäste übersehen ihn routiniert. Wir kommen ins Gespräch über eine Rolle Klopapier. Er mag Mitte zwanzig sein, aber das Geschäft kennt er auswendig; seit sieben Jahren fährt er auf See. Erst war er auf einem Kreuzfahrtschiff, aber die Arbeitsbedingungen seien schlimm gewesen. „Kreuzfahrtschiffe sind die Hölle, eine Katastrophe.“ Wir fragen nicht nach Details und er spricht nicht davon. Er wechselte das Unternehmen. Wie die Arbeit hier ist? „Es ist okay“, antwortet er diplomatisch, ohne Uniform würde er gewiss anderes erzählen. Es reicht, damit er bleibt.

Er will über Deutschland hören, da sei es doch sicher sehr schön. Aber auch sehr teuer, habe er gehört. Und viele Filipinos lebten dort, in Hamburg, in Frankfurt. Natürlich war er auch schon in Hamburg. Der junge Mann, sehr smart, sehr interessiert, berichtet, er liebe den Norden Europas, das Baltikum, Skandinavien. „Mein Lieblingsland ist Norwegen.“ Aber das sei natürlich auch sehr teuer. Wenn er irgendwo an Land könne, gehe er was essen, was trinken. Sechs Monate dauert eine Schicht auf See, dann hat er zwei Monate frei. Wir fragen, wie viel Zeit er denn hat, sich umzusehen, wenn er zwischendurch von Bord kann. Er antwortet kurz und präzise: „Drei Stunden.“

Veröffentlicht von

Alina Schwermer

Freie Journalistin, schreibt viel für die taz, für die Deutsche Welle, aber auch für die Jungle World und wer sie sonst so fragt. Am liebsten über Sport und Reisen. Wollte nie einen Reiseblog machen und hat nicht lange durchgehalten.

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