Am Anfang der Lieferkette

Maruf und seine Brüder sitzen in einem kargen Raum auf der zweiten Etage ihres Hauses und arbeiten. Oder, wie es Maruf zusammenfasst: „Wir rauchen was, dann arbeiten wir ein bisschen, dann rauchen wir was, dann arbeiten wir ein bisschen.“ Er lächelt ein seliges, breites Lächeln. Seine Geschwister und er, der eigentlich nicht Maruf heißt, zwölf Kinder in einem abgelegenen Tal im marokkanischen Rif-Gebirge, bauen kommerziell Gras für Europa an, was sie nicht besonders von der Nachbarschaft abhebt, das tun fast alle hier.

Ein substanzieller Teil der weltweiten Gras- und Haschisch-Produktion kommt aus dem Rif-Gebirge, wo es seit Jahrhunderten kultiviert wird. Ein stolzer Teil der Kultur, dazu eine Haupt-Einnahmequelle für viele prekäre Bauern, die trotzdem arm bleiben. „Wir exportieren nach Europa und nach Kalifornien“, berichtet Maruf. Die weltgeschichtlich sehr kurze Phase der Verbote, maßgeblich übrigens durch Rassismus gegenüber MexikanerInnen in den USA motiviert, hat hier wenig Spuren hinterlassen. Außer auf verquere Art und Weise: das Verbot sichert das Leben der Familie.

Das Dach des Hauses ist mit geernteten Pflanzen bedeckt, die in der Sonne trocknen; auf dem Tisch im Zimmer liegen getrocknete Blüten und Haschbrocken, Feuerzeuge, Werkzeuge und die traditionellen dünnen Pfeifen. Einer der Brüder trommelt die Blüten in einer Art Waschzuber mit Spannhaut, während Maruf uns pragmatisch erzählt, was das Geheimnis seiner Ernährung ist: „Haschisch, Kaffee und Zucker.“ Er raucht so viel, wie er lächelt. „Seit 30 Jahren.“ Ich frage, wie alt er sei. „37 Jahre.“ Er lacht, als wir lachen.

Armut sieht man hier an den Gesichtszügen, er sieht zehn Jahre älter aus, als er ist. Und an den Zähnen, fast alle fehlen. Aber was ist arm? Im Gegensatz zu vielen Leuten auf kargen Dörfern, die wir später treffen, hat die Familie im zumindest etwas fruchtbaren Tal viel. Ein gutes Haus, viele Felder. Einen Lebensunterhalt, der meist funktioniert. Fühlt er sich arm? Wir fragen nicht.

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Es ist ein abgelegenes Tal im Gebirge. Nur ein paar Stunden Wanderung entfernt liegt die Tourismus-Metropole Chefchaouen mit ihrer pittoresken, überteuerten Altstadt, die den TouristInnen ihre Orient-Träume erfüllt, wohlhabend, recht liberal und ehemals eine Hippie-Hochburg – der Ort, der Kiffen an die europäische Jugend exportierte, und übrigens auch das Verb, vom marokkanisch-arabischen „Kif“. Immer noch ist er jenseits von Corona für Kiffer-Ferien beliebt. Hier oben aber ist es völlig still. Das Tal ist etwas grüner als die karge Umgebung, normalerweise fließt hier Wasser. Der Blick ist majestätisch. Kinder grüßen strahlend.

Zu Fuß sind wir zufällig hierher gekommen, wo zwei Häuser stehen: das von Marufs Eltern und das von einem seiner Brüder. Wir haben Marufs Mutter gefragt, ob man hier etwas zu essen kaufen kann, und bekommen nach kurzer Zeit eine super Tajine aus Bohnen serviert, mit selbstgemachtem Brot, Walnüssen und Oliven aus eigenem Anbau: eine Mahlzeit, die den ganzen Tag vorhält. Zu einem Preis, der sicher ein Touristenpreis ist, aber trotzdem sehr billig. Die Familie lebt viel selbstversorgend, erzählt sie, sie baut neben Nüssen und Oliven etwa Gemüse und Kartoffeln an und pflückt Kräuter wie Thymian im Gebirge.

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Es lässt sich ordentlich leben hier, „sehr ruhig, sehr schön“, sagt Maruf. Und doch ist die Zukunft unsicher. Eine Schule gibt es nicht. Ein paar der Jungs, sagt er, gehen unten in Chefchaouen zur Schule. Ohne Auto ist die Stadt weit weg; wie für so viele Bauern auf dem Land ist das Haupt-Transportmittel der Esel, die Familie hat auch zwei Pferde. Weggekommen sind nur die vier Schwestern. „Sie werden in die Stadt verheiratet, sie müssen dann im Haus bleiben und gehen nur auf den Markt raus“, sagt Maruf. Es ist schwer zu ergründen, was er davon hält. Rauchen dürfen Frauen hier nicht, wird uns mehrfach berichtet, sonst fänden sie keinen Ehemann. Immerhin Space-Kekse essen dürfen sie. Die Hochzeit ist teuer, sagt Maruf, tausend Euro koste sie. „Dann schlachten wir eine Kuh.“

Wie für die meisten MarokkanerInnen sind die Zeiten für die Familie nicht gut. Durch Corona kommen keine TouristInnen mehr, es gibt kaum Flüge, die Landgrenzen sind zu. „Die Lage ist seit Jahren schlimm, viele junge Männer haben sowieso keine Arbeit. Jetzt sitzen alle nur noch zu Hause und kiffen“, sagt Maruf. „Ich habe seit einem Jahr keine Freunde gesehen. Unten in Chefchaouen kommen vielleicht mal zwei oder drei Touristen. Hier oben hin kommt keiner.“ Es sind die einzigen Momente, in denen sein entspanntes Lächeln schwindet. Dass er sich Sorgen macht, das erzählt er mehrfach.

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Unten in Chefchaouen, das sie nur Chaouen nennen, giert man auf Einnahmen. Ein Schritt in die Medina, die bei WestlerInnen so beliebte historische Altstadt mit den blauen Fassaden, und die Dealer und Händler stürmen auf uns los. Alles ist hier auf Tourismus ausgelegt, allein, es kommt niemand. Niemand, der die Lüge glaubt, die hier verkauft wird. „Ungefähr 60 bis 70 Prozent der Leute, die angeblich traditionelles Handwerk verkaufen, sind gar nicht aus Chaouen“, erzählt Ali. „Sie kommen aus Großstädten wie Fes, sie sprechen fünf Sprachen und wissen sofort, woher du kommst. Wenn du Deutsch sprichst, zahlst du den dreifachen Preis.“ Auch die Dealer in der Medina nerven ihn. „Sie kaufen ihr Zeug von mir und verkaufen dort zum doppelt und dreifachen Preis. Ich mag sie nicht, sie sind aggressiv gegenüber Touristen, sie machen Ärger, das ist schlecht fürs Geschäft.“

Ali, der ganz sicher anders heißt, ist Zwischenhändler, er spricht in einem Park alle an, die nicht entschieden genug weggehen. Gras sichert Marufs Familie bloß das Überleben, aber Ali hat es wohlhabend gemacht. Auch er ist einer von denen, die fünf Sprachen sprechen, gelernt hat er die meisten auf der Straße. Er ist hier vor Ort geboren und fühlt sich ein wenig überfremdet von den Dealern, die jetzt in Massen nach Chaouen kommen. Ali sieht sich als Gentleman-Händler: er dränge TouristInnen nichts auf, und wenn ein Einheimischer nicht zahlen könne, so behauptet er, übe er keine Gewalt aus. „Deshalb mögen mich alle.“

Sehr bereitwillig erzählt er uns von dem Netzwerk, das er unterhalte, nach Europa, in die USA, nach Australien und Neuseeland. „Ich habe überall Marokkaner sitzen, die vor Ort leben. Die steigen ins Flugzeug, kommen hierher, schlucken die Shit-Brocken in Plastikfolie, und – sorry für den Ausdruck – scheißen sie drüben wieder aus.“ Er lebe gut davon. Boote, nein, so was betreibe er nicht. „Das machen nur die Reichen. Die sind in 45 Minuten mit dem Schnellboot in Spanien.“

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Ali ist nicht nur ein guter Verkäufer, sondern auch ein guter Geschichtenerzähler, das eine hängt ja meist mit dem anderen zusammen. Er sieht die Entstehung der Welt so: Am Anfang, als alles begann, gab es zwei Kontinent-Massen. Auf der einen wuchs Sativa, auf der anderen Indica, die beiden großen Cannabis-Sorten. Marokko ist Sativa-Land, traditionell. Damals, in alter Zeit, da bildete Marokko einen Kontinent mit Mexiko, ebenfalls Sativa-Land. Dann aber kam die Kontinentalverschiebung, die die brüderlichen Landmassen zerriss, und das Gras wurde vom Winde verweht. Außer in zwei gigantischen Gebirgen, die die Samen in Reinform aufhielten: Indica im Himalaya, Sativa im Rif-Gebirge.

Hier vor Ort also. Mythologie trifft Plattentektonik. Ob das eine Volkssage ist oder sein persönliches Märchen, bleibt unklar. Wie auch immer die wahre Geschichte geht, es herrscht eine angenehm selbstverständliche Haltung gegenüber Hanf hier. Die Space-Kekse, die Ali verkauft, backt seine Mutter.

Aber eine Legalisierung, wie sie gerade auch in Marokko diskutiert wird? Der Händler nennt sie eine Katastrophe. „Dann kommen große Konzerne und sagen uns, was wir zu tun haben. Und streichen alle Gewinne ein.“ Er dürfte Recht haben. Die Ironie liegt natürlich darin, dass in diesem Wirtschaftssystem immer jemand die anderen ausbeutet. Aktuell streicht Ali die Gewinne ein. Die, die von Menschen wie Maruf produziert werden. Alis Zähne sind makellos.

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Maruf ist keiner, der fünf Sprachen spricht. Als Einziger aus seiner Familie beherrscht er eine Fremdsprache, eine abenteuerliche Mischung aus Spanisch mit französischen Brocken und ein paar arabischen Wörtern, wie sie hier viele sprechen. Das Spanisch deswegen, weil dieser Teil Marokkos einst spanisches – nun, wie heißt es so schön – Protektorat war, aber auch, weil viele BewohnerInnen eine lange Geschichte mit Spanien verbindet: Chefchaouen wurde gegründet von flüchtigen Muslimen aus Al-Andalus, nachdem sie 700 Jahre die iberische Halbinsel beherrscht hatten. Und ihre spanischen Gebräuche hier weiter pflegten.

Keine einseitige Kolonisierung, wie sie aktuell oft die Narrative bestimmt, sondern wechselseitige Herrschaft. Unterdrückung auf beiden Seiten des Mittelmeers. Und so wird Spanisch immer noch gesprochen, zumindest teilweise. Wir sprechen dieselbe Sprache, und doch eine andere. Maruf und seine Brüder haben keinen Fernseher hier oben, keinen Laptop und kaum Kontakte außerhalb der Familie. Nur die Klamotten sprechen die Sprache der Globalisierung: der Vater trägt eine alte, gefakte FC-Bayern-Trainingshose. Sie erzählen gern über ihre Produktion, sie demonstrieren jeden Schritt, aber sie stellen uns keine Fragen. Worüber auch? Und irgendwann versiegt das Gespräch. Wir steigen ins Tal zurück, und sie machen weiter, sie arbeiten und rauchen.

Der Ort: Chefchaouen und die umliegenden Bergdörfer im Norden Marokkos

Was man da machen kann: Vor Ort beim lokalen Produzenten kaufen, wer möchte. Disclaimer: Auch in Marokko ist Gras offiziell illegal, es drohen hohe Gefängnisstrafen. Wir hatten allerdings nicht den Eindruck, dass das in der Region besonders nachdrücklich umgesetzt wird. Wie immer gilt: Lokaler Kauf beim untersten Glied der Lieferkette ist besser und um vieles billiger als weiter oben. Wer nichts kaufen will, sollte das den oft aggressiven Dealern recht nachdrücklich klar machen.

Und sonst so: Das Rif-Gebirge ist eine tolle Gegend zum Wandern, sehr karg und beeindruckend. Die übliche Route geht drei Tage über Dörfer wie Asilah und Affaska zu den Wasserfällen von Akchour. Für Ungeübte ziemlich viele Höhenmeter. Stattdessen in ein beliebiges Dorf zu wandern, tut es auch, es ist überall spannend. Wer hardcore ist, kann bis zum Mittelmeer trecken. Ein See tiefer im Gebirge soll weniger touristisch sein als die Wasserfälle und wurde uns als einheimischer Tipp genannt. Bei Interesse einfach vor Ort nachfragen.

Die Medina von Chefchaouen: Sieht hübsch aus, mehr aber auch nicht. Ein für TouristInnen veranstaltetes Orient-Schauspiel mit überteuertem Ramsch und nervigen Händlern. An jedem Dorfmarkt auf dem Weg kann man besser lokal einkaufen und nettere Gespräche führen. In Marokko ballen sich UrlauberInnen auf wenige große Städte, was den Vorteil hat, dass das Leben in 99 Prozent der Orte völlig unberührt läuft.

 

 

Veröffentlicht von

Alina Schwermer

Freie Journalistin, schreibt viel für die taz, für die Deutsche Welle, aber auch für die Jungle World und wer sie sonst so fragt. Am liebsten über Sport und Reisen. Wollte nie einen Reiseblog machen und hat nicht lange durchgehalten.

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